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»Meine Schwester schon«, antwortete Lydia. »Sie ist Shai- Priesterin.«

»Ein Grund mehr, dir nicht zu glauben«, versetzte Tidewell heftig. »Sie wird uns verraten«, fügte er hinzu, an Kent und die anderen gewandt.

»Das werde ich nicht!« widersprach Lydia. »Ich hasse sie. Sie haben mir meine Kinder gestohlen. Sie haben meine Töchter entführt und meinen Sohn umgebracht.«

Tidewell wollte widersprechen, aber Charity wandte sich wieder an Lydia. »Was geschieht mit den Kindern, die sie ins Shaitaan bringen?« fragte sie.

»Sie werden Shai geweiht und ... und weggebracht«, antwortete Lydia mit bebender Stimme.

»Wohin?«

Lydia zuckte mit den Schultern. »Das weiß niemand«, antwortete sie. »Aber meine Schwester war ... war ein paarmal dabei. Sie hat mir erzählt, daß die Geweihten in einen großen Raum unter dem Shaitaan gebracht werden, von dem aus ein Weg nach New York geht.«

»Nach New York?« Kent gab sich keine Mühe, seinen Unglauben zu verbergen. »Das sind fast tausend Meilen.«

»Ich weiß«, sagte Lydia. »Aber das ist es, was sie erzählt hat. Sie ... sie sagte, sie wäre einmal dagewesen.«

»Aber das ist völlig unmöglich!« protestierte Tidewell. »Sie lügt!«

»Nein«, sagte Charity leise. »Das tut sie nicht.«

Tidewell starrte sie finster an, und auch Kent runzelte fragend die Stirn, aber Charity ignorierte beide und wandte sich wieder an Lydia. »Ein großer Raum mit einem Ring aus Metall in der Mitte, der schwerelos über dem Boden hängt?«

Lydia nickte. »Das stimmt«, sagte sie. »Aber woher weißt du das?«

»Das würde mich auch interessieren«, fügte Tidewell lauernd hinzu.

»Ein Materietransmitter«, sagte Charity. Die Erklärung war so einfach, daß sie sich am liebsten selbst geohrfeigt hätte. »Das Shaitaan ist nichts anderes als eine Transmitterstation.«

Kents Blick machte deutlich, wie wenig ihm dieses Wort sagte. »Eine Art ... Sender«, sagte sie erklärend. »Nur, daß er keine Funkwellen oder Bilder überträgt, sondern feste Materie.«

»Das meinst du nicht wirklich«, murmelte Kent verblüfft.

»Sie sind auf diesem Wege hierher gekommen, Kent«, antwortete Charity. »Sie haben uns einen dieser verdammten Sender geschickt. Wir hätten ihn vernichten sollen. Wir hätten es sogar gekonnt, aber wir ... wir wußten ja nicht, was da zu uns kam. Und als wir es gemerkt haben, war es zu spät.« Ihre Stimme wurde bitter. Sie sah Arson an. »Das Ding, das ihr die Schwarze Festung nennt - ich glaube, es ist das Schiff am Nordpol. Nichts anderes als eine Transmitterbasis. Wahrscheinlich gibt es Hunderte davon auf der Erde.«

Es dauerte einen Moment, bis ihr das plötzliche Schweigen auffiel. Und dann dauerte es noch einmal Sekunden, bis sie begriff, warum alle plötzlich sie anstarrten und nicht mehr Lydia.

»Sagtest du: wir?« fragte Kent. »Wie meinst du das? Es gibt noch mehr wie dich?«

»Ja«, sagte Charity, verbesserte sich sofort und schüttelte den Kopf. »Genauer gesagt, nein. Ich glaube nicht.« Sie schwieg noch einmal einen Moment, dann begann sie mit leiser, aber sehr fester Stimme zu erzählen.

4

Eine Hand lag auf seiner Stirn; schmal und kühl und sehr leicht - die Hand eines Kindes oder eines sehr kleinwüchsigen Planetenbewohners. Geräusche: das Murmeln von Stimmen, zu weit, als daß er die Worte verstehen konnte, Schritte, Lachen: alltägliche Geräusche einer menschlichen Ansiedlung. Keine Bedrohung.

Kyle öffnete die Augen. Sein Blickfeld war eingeschränkt, und im ersten Moment hatte er Mühe, die richtige Sehschärfe zu finden; alles war verschwommen, düster, das Licht ein wenig ins Rote verschoben. Eine Gestalt saß neben ihm, blickte in sein Gesicht und strich weiter sanft mit der Hand über seine Stirn. Er hatte Fieber. Die Berührung der schmalen Hand tat sonderbar gut. Kyle hatte entsetzlichen Durst.

»Verstehst du mich?«

Die Stimme klang so jung, wie sich die Berührung der Hand anfühlte. Kyle nickte schwach, konzentrierte sich einen Moment lang darauf, sein außer Kontrolle geratenes Sehvermögen zu korrigieren, und registrierte mit leiser Verwunderung, welche Anstrengung es ihn kostete.

Der verschwommene helle Fleck über ihm gerann zu einem schmalen, von schulterlangem schwarzen Haar eingefaßten Gesicht, wie er vermutet hatte, das Gesicht eines Mädchens. Er wollte etwas sagen, aber seine Stimme verweigerte ihm den Dienst. Sein Gaumen war geschwollen und hart. Der Durst hatte die Intensität echter körperlicher Schmerzen erreicht.

»Warte«, sagte das Menschenjunge. »Ich hole dir Wasser. Beweg dich nicht.« Es stand auf und verschwand aus seinem Sichtfeld, verließ die Hütte aber nicht; Kyle hörte es irgendwo rechts neben sich hantieren.

Besorgt lauschte er in sich hinein. Der Zusammenbruch und die Ohnmacht waren programmiert gewesen; vier, maximal fünf Stunden, in denen er fiebergeschüttelt dagelegen und Worte gestammelt hatte, die sein niemals schlafendes Unterbewußtsein pedantisch überwachte. Er wußte, daß er das Vertrauen der Planetenbewohner jetzt schon gewonnen hatte; die scheinbar zusammenhanglosen Wort- und Satzfetzen wiesen ihn als das aus, was sein Äußeres zu sein vorgab. Rasch rekapitulierte er noch einmal das, was er im Schlaf gesagt hatte, und registrierte zufrieden, daß ihm kein Fehler unterlaufen war. Trotzdem war etwas nicht so, wie es sein sollte. Er war erschöpfter, als er hätte sein dürfen, und sehr viel durstiger. Der Wassermangel hatte gefährliche Ausmaße angenommen. In seinem rechten Bein pulsierte ein heftiger, klopfender Schmerz.

Kyle konzentrierte sich einen Moment lang darauf und stellte fest, daß es gebrochen war. Mehrmals und nicht glatt, so daß Knochensplitter in sein Fleisch gedrungen waren und bereits eine Entzündung hervorgerufen hatten. Der Sturz vom Motorrad war schwerer gewesen, als er vermutete.

Aber der Schaden war nicht irreparabel. Noch bevor das Menschenjunge mit dem versprochenen Wasser zurückkehrte, aktivierte Kyle eine Anzahl schlafender Abwehrmechanismen, die es seinem Körper ermöglichten, mit der Infektion binnen weniger Stunden fertig zu werden. Gleichzeitig leitete er einen behutsamen Heilungsprozeß ein. In seinem rechten Bein machte sich ein taubes Prickeln bereit, der Schmerz verschwand wie abgeschaltet. Kyle hätte den Bruch auch innerhalb weniger Minuten heilen können, aber das durfte er nicht. Er hatte das Vertrauen dieser Menschen hier gewonnen, aber noch nicht die Informationen, die er benötigte.

Das Menschenjunge kam zurück, eine flache hölzerne Schale mit Wasser in beiden Händen haltend. Vorsichtig kniete es neben ihm nieder, stellte die Schale ab und schob dann eine Hand unter seinen Nacken, um seinen Kopf zu stützen. Dann hob es die Schale mit der anderen Hand wieder an und setzte sie an seine Lippen. »Hier«, sagte es. »Trink. Aber vorsichtig. Nur ganz kleine Schlucke - versprochen?«

Kyle deutete ein Nicken an, öffnete den Mund und trank. Das Wasser schmeckte schlecht. Es war warm und abgestanden und voller Krankheitserreger, und Kyle hätte es nicht einmal nötig gehabt - jetzt, als er wieder die volle Kontrolle über seinen Körper hatte, konnte er behutsam einen Teil des eingekapselten Flüssigkeitsvorrates freisetzen und den bedrohlich werdenden Wassermangel so regulieren. Trotzdem trank er mit großen gierigen Schlucken, so daß das Junge schließlich den Kopf schüttelte und die Schale mit einem bedauernden Seufzen wieder zurückzog.

»Nicht so hastig«, sagte es. »Du bekommst, so viel du willst, aber du mußt langsamer trinken.«

»Durst«, flüsterte Kyle. Seine Stimme zitterte und klang krank.

»Ich weiß«, sagte das Humanoidenjunge. »Du hast Fieber. Aber Stanley hat mir verboten, dir zuviel Wasser zu geben, bevor er dich nicht untersucht hat. Du hast zwölf Stunden dagelegen und phantasiert.«