Der Anblick setzte Charity mehr zu, als sie sich eingestehen wollte. Mehr als den anderen, mehr als selbst Lydia, die noch vor weniger als einer Stunde voller Verbitterung erzählt hatte, was die Invasoren aus ihrer Heimat gemacht hatten. Vielleicht, weil sie von allen hier die einzige war, die diese Stadt gekannt hatte.
»Dort ist es.« Lydia deutete auf ein Gebäude schräg auf der anderen Seite der Straße. Es war sehr breit, hatte zahllose Fenster und maß sechs oder sieben Stockwerke. Die beiden oberen Etagen waren verkohlt und ausgebrannt, und ein gewaltiger Schuttberg streckte sich zu beiden Seiten des Gebäudes bis weit über die Straßenmitte hinaus.
»Deine Wohnung?«
Lydia schüttelte den Kopf. »Die meiner Schwester«, sagte sie. »Ich kann nicht nach Hause zurück. Sie wissen, was ich getan habe. Sie suchen mich.«
Charity konzentrierte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Gebäude. Alles wirkte ruhig, fast ausgestorben, so wie die ganze Stadt - oder das, was davon übrig war. Sie waren kaum einem Dutzend Menschen begegnet. Aber Lydia hatte sie gewarnt - Morons Augen waren überall. Und die neuen Herrscher der Erde duldeten viel, nur eines nicht: daß sich ihnen jemand widersetzte. Sie würden nicht eher aufgeben, bis sie Lydia wieder eingefangen hatten.
»Worauf warten wir?« fragte Kent ungeduldig.
Charity warf ihm einen warnenden Blick zu. Für ihren Geschmack war es hier einfach zu ruhig. Auch wenn Denver - wie sie von Lydia wußte - nur noch knapp fünftausend menschliche Einwohner hatte, hätten sie mehr Menschen treffen müssen. Irgend etwas stimmte hier nicht. Die Stadt schien den Atem angehalten zu haben, als warte sie auf etwas.
»Vielleicht sollte ich allein vorgehen«, sagte Lydia. »Wenn es eine Falle ist, dann gilt sie nur mir. Sie wissen nicht, daß ihr da seid.«
»Blödsinn«, sagte Gurk. »Du ...«
»Halt die Klappe, Zwerg«, unterbrach ihn Kent grob. »Sie hat recht.« Einen Moment lang sah er Lydia nachdenklich an, dann griff er unter seine Jacke und zog eine Maschinenpistole hervor.
»Hier. Nur zur Sicherheit. Wir kommen nach, sobald du drinnen bist.«
Sekundenlang zögerte die junge Frau, nach der Waffe zu greifen. Dann nahm sie sie aus Kents Hand, schob sie scheinbar achtlos unter ihre Jacke und trat rasch und ohne ein weiteres Wort aus dem Schatten der Häuserfront.
Charity, Kent, Gurk und Skudder beobachteten sie aufmerksam, während sie die Straße überquerte. Sie bewegte sich ohne Hast, fast gelangweilt, wie ein Spaziergänger, der gar nicht genau weiß, wohin er überhaupt geht. Charity spürte eine gewisse Bewunderung für die Kaltblütigkeit der jungen Frau. Aber vielleicht war es auch nur Verzweiflung. Die Lydia, die dort die Straße überquerte, hatte kaum noch etwas mit der verzweifelten jungen Frau zu tun, die sie vor den Reitern gerettet hatten.
Sie verscheuchte den Gedanken.
Ihre Vorsicht erwies sich - diesmal - als überflüssig. Lydia erreichte unbehelligt die gegenüberliegende Straßenseite und verschwand im Inneren des Gebäudes. Nach wenigen Augenblicken tauchte ihre Gestalt wieder unter der Tür auf. Sie winkte. Alles okay.
Nacheinander folgten sie ihr. Charity und Gurk waren die letzten, die die Straße überquerten, wobei Gurk an ihrer Hand ging, damit sie den Eindruck einer Frau und eines Kindes erweckten. Charity wußte nicht, ob die Täuschung funktionierte - es gab niemanden, den sie narren konnten. Die Straße blieb leer wie in einer Geisterstadt.
Trotzdem atmete sie erleichtert auf, als sie in die verwüstete Eingangshalle des ehemaligen Wolkenkratzers traten. Gurk riß sich mit einem Ruck von ihrer Hand los und zerrte sich den Strohhut vom Kopf, während Kent und Skudder ihn mit unverhohlener Schadenfreude angrinsten.
»Warum läßt du ihn nicht auf?« erkundigte sich Kent feixend.
»Er steht dir ausgezeichnet«, fügte Skudder hinzu.
Gurks Augen verschossen kleine Giftpfeile in Richtung der beiden ungleichen Männer. »Zerreißt euch ruhig die Mäuler«, geiferte er. »Ich werde als letzter lachen, wenn Daniel ...«
»Schluß«, bestimmte Charity. »Alle drei. Wir haben wirklich Wichtigeres zu tun.«
Gurk knurrte etwas Unverständliches, und Charity wandte sich wieder an Lydia. »Wo wohnt deine Schwester?«
Lydia deutete auf die Treppe. »Im zweiten Stockwerk. Aber wir müssen vorsichtig sein. Es ... wohnen noch andere Diener der Moroni in diesem Haus. Folgt mir, aber paßt auf.«
»Gibt es sonst noch etwas, was du vergessen hast, uns zu erzählen?« fragte Skudder übellaunig. Lydia musterte ihn kalt und wandte sich ohne ein weiteres Wort ab.
Charity sah sich aufmerksam um, während sie der jungen Frau zur Treppe folgten. Das Gebäude mußte früher einmal ein Hotel oder ein großes Geschäftshaus gewesen sein - an einer der Wände waren noch Teile einer ehemals riesigen Empfangstheke zu sehen, und es gab gleich fünf Aufzüge, von denen natürlich keiner mehr funktionierte. Decke und Wände wiesen zahlreiche Brandspuren auf, aber auch Hunderte faustgroßer Löcher - unübersehbare Spuren eines Kampfes, der auch hier getobt hatte. Trotzdem war alles überraschend sauber, und die schlimmsten Schäden waren sogar repariert worden. Die Menschen, die hier lebten, hatten zumindest versucht, sich so etwas wie ein Heim zu schaffen. Als sie den Treppenschacht betraten, entdeckte sie ein paar Bilder an den Wänden, und über den nackten Beton der Stufen hatte jemand ein Flickwerk aus verschiedenen Teppichstücken gelegt. Der Anblick hätte ihr Mut machen sollen, aber er erfüllte sie nur mit noch größerer Verbitterung.
Sie passierten die Tür zur ersten Etage und erreichten die zweite. Lydia gab ihnen mit Gesten zu verstehen, daß sie zurückbleiben sollten, öffnete die schwere Brandschutztür, indem sie sich mit der Schulter dagegenwarf, und verschwand in dem dahinterliegenden Gang. Diesmal dauerte es lange, bis sie zurückkam, und als sie es tat, wirkte sie sehr besorgt.
»Was ist?« fragte Kent.
Lydia zögerte. »Meine Schwester ist zu Hause«, antwortete sie. »Aber sie ist nicht allein. Ich ... habe Stimmen gehört.«
»Wie viele?«
Lydia zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht. Drei, vielleicht auch vier. Sie klangen sehr aufgeregt. Als stritten sie.« Kent griff unter seine Jacke und zog seine MP hervor. »Warum streiten wir nicht ein bißchen mit?«
Charity antwortete gar nicht darauf, und natürlich erwartete Kent auch gar keine Antwort. Er wußte so gut wie sie, daß sie unter gar keinen Umständen auffallen durften.
»Dann warten wir hier«, sagte Charity nach kurzem Überlegen. »Früher oder später wird dieser Besuch schon wieder gehen. Deine Schwester lebt doch allein, oder?«
»Angellica ist eine Shai-Priesterin«, antwortete Lydia, als wäre dies Erklärung genug. Als sie Charitys und Skudders irritierte Blicke bemerkte, fügte sie hinzu: »Sie müssen allein leben.«
»Dann warten wir hier«, bestimmte Charity.
»Und wenn jemand kommt?«
»Dann erklären wir, daß wir eine Umfrage im Auftrag von Pepsi-Cola machen«, antwortete Charity. Kent, Skudder und auch Lydia blickten sie verständnislos an, und sie beeilte sich, hinzuzufügen: »Wir müssen eben vorsichtig sein.«
»Und vielleicht fangt ihr damit an, etwas weniger laut zu werden«, sagte Gurk giftig. »Man hört euch wahrscheinlich bis nach New York.«
Kyle bekam Durst. Er war seit etwas mehr als vier Stunden unterwegs, und der Wasservorrat in seinem Körper hätte für mindestens noch einmal die gleiche Zeitspanne ausreichen müssen - aber etwas stimmte nicht.
Er hatte es schon gespürt, kurz nachdem er das kleine Dorf verlassen hatte. Seine Körperchemie war irgendwie durcheinandergeraten. Er beherrschte seinen eigenen Körper noch immer so virtuos wie andere ein Instrument, aber es kostete ihn erheblich mehr Mühe als gewöhnlich.