Angellica war viel zu überrascht, um auch nur den Versuch einer Gegenwehr zu machen. Aber Charity hielt sie trotzdem mit eiserner Kraft fest, bis auch Kent und Skudder das Zimmer betreten und die Tür hinter sich geschlossen hatten. Erst dann nahm sie die Hand von Angellicas Mund und lockerte den Druck auf ihren Nacken ein wenig. Gleichzeitig tastete sie mit der freien Hand nach Angellicas Arm und bog ihn auf den Rücken.
»Wenn du schreist, breche ich dir den Arm, Schätzchen«, sagte sie freundlich. »Verstanden?«
Angellica nickte. »Ich habe verstanden. Sie können mich loslassen.«
Charity zögerte. Aber dann fing sie einen Blick Lydias auf. Lydia nickte, und sie ließ Angellicas Arm los und trat rasch einen Schritt zurück.
Angellica drehte sich langsam zu ihr herum und blickte abwechselnd sie, Gurk und die beiden Männer an, während sie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht ihren Arm rieb. Aber sie sagte kein Wort, sondern wandte sich zornig an ihre Schwester.
»Reizende Freunde hast du«, schnappte sie. »Aber dein Umgang war ja noch nie der beste. Also - was wollt ihr?«
»Die Fragen stellen wir hier«, sagte Kent.
In Angellicas Augen blitzte es auf. »So?« sagte sie. »Und ich dachte, das hier wäre meine Wohnung.«
Kent lächelte kalt. »So kann man sich täuschen, Gnädigste. Aber keine Sorge - wir bleiben nicht lange. Wir haben nur ein paar Fragen an Sie. Wenn Sie sie beantworten, sind wir schneller wieder weg, als wir gekommen sind.«
»Jetzt reicht es«, fauchte Angellica. »Verschwindet - alle fünf. Wenn ihr nicht auf der Stelle macht, daß ihr rauskommt, rufe ich die Wachen!« Sie fuhr herum, trat mit zwei, drei weit ausgreifenden Schritten an ein Schränkchen neben der Tür und streckte die Hand nach einem flachen schwarzen Kästchen aus.
»Ich an Ihrer Stelle würde das nicht tun«, sagte Skudder. Mit aller Seelenruhe griff er in seine Jacke, zog eine der kleinen, handlichen Maschinenpistolen heraus, mit denen Kent sie ausgerüstet hatte, und ließ den Sicherungshebel zurückschnappen.
Angellica sah nicht einmal in seine Richtung. Aber die Art, auf die sie mitten in der Bewegung erstarrte, als das metallische Schnappen erklang, überzeugte Charity davon, daß sie diesen Laut nicht zum ersten Mal in ihrem Leben hörte. Sie wurde noch ein wenig bleicher, als sie es ohnehin schon war, und drehte sich mit mühsam erzwungener Ruhe herum.
»Ihr gehört zu diesen Rebellen«, sagte sie ruhig.
Skudder nickte. »Stimmt.«
Angellica starrte ihn fast haßerfüllt an, dann wandte sie sich an ihre Schwester. »Und du?« fragte sie. »Gehörst du auch zu diesen ... Aufrührern?«
»Ja«, antwortete Lydia. »Jedenfalls haben sie mir das Leben gerettet.«
»Wie edel«, antwortete Angellica spöttisch. »Und was verlangen sie dafür? Mein Leben?«
»Nicht, wenn Sie vernünftig sind, Angellica«, antwortete Charity an Lydias Stelle. »Wir sind nicht Ihretwegen hier.« Sie deutete auf Kent. »Es ist so, wie Kent sagte: Wir haben nur ein paar Fragen an Sie. Wenn Sie sie beantworten, gehen wir.«
»Und wenn nicht?« fragte Angellica höhnisch. »Bringt ihr mich dann um, oder beschränkt ihr euch darauf, mich ein bißchen zu foltern?«
»Keines von beiden«, sagte Skudder. »Sie werden reden, meine Liebe. Das weiß ich.«
Angellica lachte. Sie hatte ihr Selbstsicherheit wiedergefunden - überraschend schnell wiedergefunden, dachte Charity alarmiert. Sie verhielt sich nicht wie ein Mensch, der sich in Gefahr glaubt.
»Ihr seid ja verrückt«, sagte sie. »Aber bitte - was wollt ihr wissen?«
»Sie sind Shai-Priesterin?« begann Charity. »Was immer das sein mag.«
»Das bin ich«, erklärte Angellica stolz. »Warum fragen Sie, wenn Sie es wissen?«
Charity überging die Frage. »Sie gehören also zu denen, die mithelfen, Kinder zu entführen und in dieses verdammte Ding dort draußen hinter dem Todesgürtel zu schaffen?« fuhr sie fort.
Angellica starrte ihre Schwester haßerfüllt an, ehe sie antwortete. »Nein, das tue ich nicht.«
»Nicht?«
Angellica gab einen Laut von sich, der eine Mischung aus Lachen und Schluchzen war. »Ich weiß nicht, was diese Verrückte Ihnen erzählt hat«, sagte sie mit einer Geste auf Lydia. »Aber wir entführen keine Kinder. Es ist meine und die Aufgabe meiner Schwestern, die Auserwählten in das Shaitaan zu bringen und sie den Herren zu übergeben.«
»O ja, ich verstehe«, sagte Charity. »Das kommt mir irgendwie bekannt vor. Aber Sie bringen die Kinder dorthin, das stimmt. Und sie kommen nie wieder? Ich meine, hat irgend jemand eines dieser Kinder je wiedergesehen?«
»Natürlich nicht!« sagte Angellica empört. Wieder blickte sie ihre Schwester voller Verachtung an. »Ich kenne die Geschichten, die man über uns erzählt. Sie sind nicht wahr. Den Auserwählten geschieht nichts - im Gegenteil! Es ist ein besseres Leben, das sie bei unseren Herren erwartet.«
»Ihr bringt sie um«, sagte Lydia.
»Manche sterben, das ist wahr«, antwortete Angellica ungerührt. »Doch nur die Schwachen, Lebensuntüchtigen. Die anderen werden in eine neue, bessere Welt gebracht.«
»Ach?« sagte Kent. »Und was geschieht mit ihnen - in dieser neuen, besseren Welt?«
»Sie dienen den Herren«, erwiderte Angellica stolz. »Aber warum rede ich überhaupt mit euch? Ihr seid schon tot. Ihr habt Hand an eine Shai-Priesterin gelegt.«
»Ich werde noch etwas ganz anderes an dich legen, Schätzchen«, sagte Skudder, »wenn du nicht ein wenig freundlicher wirst.«
Angellica starrte ihn voller Verachtung an, und Charity konnte spüren, wie zwischen ihr und dem Hopi etwas vorging. Trotz allem waren sich die beiden sehr ähnlich - beide waren stolz und beide sehr stark. Mit einem raschen Schritt trat sie zwischen Angellica und Skudder.
»Wir sind nicht hier, um Ihnen etwas anzutun, Ag«, sagte sie hastig. »Wir wollen nur ein paar Informationen von Ihnen, das ist alles.«
»So?« sagte Angellica. »Und welche?«
»Sie kennen den Weg in das Shaitaan«, sagte Charity. »Und Sie werden ihn uns verraten.«
Angellica riß erstaunt die Augen auf. Eine, zwei Sekunden lang starrte sie Charity voller maßloser Verblüffung an - und dann begann sie schallend zu lachen.
»Was ist daran so komisch?« erkundigte sich Gurk mißtrauisch.
»Ihr wollt ... in das Shaitaan eindringen?« fragte Angellica, noch immer atemlos vor Lachen. »Ihr seid ja verrückt. Ihr würdet ihm nicht einmal nahe kommen, selbst wenn ich euch den Weg verraten würde - und das werde ich nicht.«
Lydia trat wortlos neben sie, riß sie an der Schulter herum und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Angellicas Kopf flog zurück. Sie taumelte gegen die Tür, fand im letzten Moment Halt und preßte die Hand gegen die schmerzende Wange. Ihre Augen flammten. Aber Charity las selbst jetzt in ihrem Blick nicht die mindeste Spur von Angst, sondern nur Verachtung und Zorn.
Plötzlich löste sie sich von der Tür, trat mit zwei raschen Schritten auf ihre Schwester zu und ergriff sie grob am Arm. Lydia versuchte ihre Hand abzuschütteln, aber Angellica zerrte sie einfach hinter sich her zum Fenster, ehe sie sie losließ.
»Was willst du eigentlich noch?« schrie sie. »Schau hinaus! Und dann sag mir, was du siehst!«
Lydia gehorchte verwirrt. Sekundenlang blickte sie wortlos auf die menschenleere Straße, ehe sie wieder ihre Schwester ansah. »Da ist nichts«, sagte sie.
»Eben!« Angellicas Stimme klang beinahe triumphierend. »Vor drei Tagen haben dort noch Menschen gelebt, kleine Schwester. Sie sind noch immer da, aber sie wagen sich nicht mehr aus dem Haus. Und weißt du auch, warum? Weil sie Angst haben. Deinetwegen!«
»Was soll das heißen?« fragte Charity scharf.