»Die Herren haben eine Strafexpedition losgeschickt«, antwortete Angellica zornig. »Aber warum fragen Sie das nicht Lydia? Sie weiß so gut wie ich, welche Strafe auf den Mord an einem Reiter steht. Hundert für einen.«
Im ersten Moment begriff Charity nicht einmal, was Angellica überhaupt meinte. Dann durchfuhr sie ein eisiger Schreck. Ungläubig starrte sie abwechselnd Lydia und ihre Schwester an.
»Hundert für ...«
»Sie töten dreihundert Menschen, ja«, sagte Lydia mit zitternder Stimme. »Einhundert für jeden Reiter, den ihr erschossen habt. Das ist immer so. Wenn ... wenn einer von ihnen getötet wird, dann ... dann schicken sie Reiter los, die sich wahllos ihre Opfer suchen. Niemand weiß, wen es trifft.«
»Und das hast du gewußt?« fragte Skudder fassungslos.
»Natürlich hat sie es gewußt«, antwortete Angellica an Lydias Stelle. »Aber ich glaube, sie hat vergessen, es euch zu erzählen.«
Charity fuhr herum und starrte Kent an. Der junge Rebell wich ihrem Blick aus.
»Und du?« fragte sie. »Hast du davon gewußt?«
Kent nickte. »Ja«, sagte er. »Aber was hätte sich geändert, wenn ich es erzählt hätte? Es ist nun einmal passiert. Verdammt!« fügte er in zornigem Ton hinzu, allerdings noch immer, ohne Charity oder Skudder anzusehen. »Warum glaubt ihr wohl, sind wir so vorsichtig bei dem, was wir unternehmen. Das ist nun einmal Morons Gesetz, und nicht nur hier - hundert für einen!«
»Ich glaube, meine Schwester hat Ihnen nicht alles erzählt«, fügte Angellica böse hinzu. »Hat sie Ihnen zum Beispiel gesagt, daß Moron die belohnt, deren Kinder auserwählt werden?«
»Belohnt? Wie?«
»Mit Leben«, antwortete Angellica. »Zehn Jahre für jedes Kind, das ihnen genommen wird. O ja, ich kann mir vorstellen, was Lydia euch erzählt hat. Aber sie wird dreißig Jahre länger leben als ich.« Sie schwieg einen Moment, ehe sie in höhnischem Ton fortfuhr: »Das hat sie nicht erzählt, wie?«
»Dreißig Jahre länger ...?« wiederholte Charity verwirrt.
Angellica nickte. »Vielleicht auch vierzig - wer weiß? Ihr Erbgut ist gut, sonst wäre sie nicht dreimal hintereinander erwählt worden.«
»Aber das ist doch Unsinn!« protestierte Charity. »Ich meine ... niemand weiß, wie lange er leben wird, und ... und ...«
Sie brach ab, als sie den betroffenen Ausdruck auf Skudders und Gurks Gesichtern sah. Kent blickte sie einfach nur verwirrt an. Und plötzlich machte sich ein furchtbarer Verdacht in ihr breit.
»Wie lange?« fragte sie. »Wie lange läßt Moron die Menschen auf diesem Planeten leben, Skudder?«
Der Hopi sah weg. Kent und Angellica tauschten verwirrte Blicke miteinander, während Gurk unbehaglich von einem Fuß auf den anderen zu treten begann.
»Wie lange?« fragte Charity noch einmal.
»Fünfzig Jahre«, antwortete Skudder leise.
6
Der Reiter lag halb im Sand begraben, und die Düne wies eindeutige Laserspuren auf. Es waren nicht die Spuren einer Moron- Waffe, wie Kyle sofort erkannt hatte. Die Energieabgabe dieser Waffe mußte doppelt so hoch gewesen sein wie die der kleinen Handfeuerwaffen, mit denen die Dienerkreaturen ausgestattet waren. Und wer immer sie benutzt hatte, verstand sein Handwerk: nur ein Schuß war fehlgegangen. Die beiden anderen hatten präzise ihr Ziel getroffen und auf der Stelle vernichtet.
Kyles Blick glitt noch einmal über die drei flachen Sandhügel, unter denen jemand die Kadaver der drei Reiter zu verbergen versucht hatte - nicht besonders geschickt allerdings. Selbst ohne seine überscharfen Sinne hätte er die drei Leichname wahrscheinlich entdeckt: Über der Wüste kreiste eine Anzahl dunkler, gefiederter Umrisse, aasfressende Geschöpfe der heimischen Ökologie, die die Kadaver gewittert und schon wieder halb aus dem Sand ausgegraben hatten. Und der Gestank der verwesenden Riesengeschöpfe war schon in einer Meile Entfernung deutlich zu spüren gewesen. Wer immer Charity Laird geholfen hatte, hatte sich nicht besonders viel Mühe gegeben, die Spuren dieser Hilfe zu verwischen. Das konnte zweierlei bedeuten: entweder, er war von einem bodenlosen Leichtsinn erfüllt, oder er fühlte sich absolut sicher. Kyle beschloß, sich zumindest fürs erste so zu verhalten, als träfe die zweite Annahme zu. Er hatte noch nie einen Gegner unterschätzt.
Langsam ging er zu seiner Maschine zurück und stieg in den Sattel. Aber er fuhr noch nicht los. Für einen Moment war er unschlüssig, was er tun sollte. Bisher hatte er angenommen, Charity Lairds Ziel sei die Stadt im Norden - eine kleine Ansiedlung der Planetengeborenen namens Denvercolorado -, aber jetzt war er nicht mehr sicher. Er an Captain Lairds Stelle hätte es sich zweimal überlegt, den eingeschlagenen Kurs weiterzuverfolgen, wäre er auf eine Patrouille gestoßen. Daß sie die drei Reiter getötet hatte, bedeutete nichts, denn zum einen bestand die Möglichkeit, daß diese vor ihrem Tod noch einen Hilferuf abgesetzt hatten, zum anderen würde ihr Wegbleiben auffallen, und Laird mußte die Regel der Hundert kennen.
Sein Blick streifte den zerklüfteten Schatten im Westen. Ein Shaitaan. Einen Moment lang erwog er die Möglichkeit, daß Laird sich dorthin gewandt hatte, verwarf diesen Gedanken aber fast sofort wieder. Nicht einmal er rechnete sich gute Chancen aus, in ein Shaitaan einzudringen.
Kyle streckte die Hand nach dem Startknopf des Motorrades aus - und zog sie wieder zurück.
Er war nicht mehr allein.
Der Rhythmus der Raubvögel am Himmel hatte sich verändert, als sie ein neues Objekt unter sich gewahrten. Kyle wußte nicht, wie viele es waren, aber er wußte, daß er beobachtet wurde.
Nach weniger als einer Sekunde streckte er erneut die Hand aus und startete die Maschine diesmal wirklich. Er fuhr schnell los, aber nicht zu schnell, und er fuhr nicht genau in die Richtung, in der er die Beobachter vermutete. Innerlich machte er sich kampfbereit: sein Körper produzierte eine adrenalinähnliche Substanz, die seine Reflexe gut zehnmal so schnell wie die eines normalen Menschen werden ließen, und seine Haut veränderte sich. Sie sah genau so aus wie zuvor, aber sie war jetzt zäh und widerstandsfähig wie gegerbtes Leder und würde selbst einem kleinkalibrigen Explosivgeschoß standhalten, solange es nicht aus unmittelbarer Entfernung abgefeuert wurde.
Kyle lenkte die Harley die Düne hinauf. Ein Geräusch drang an sein Ohr: das Rascheln von Sand, der sich unter einem oder mehreren schweren Körpern löste. Aber er reagierte nicht darauf, um sich nicht zu verraten, ebensowenig wie auf den Schatten, der für den Bruchteil einer Sekunde durch sein Gesichtsfeld huschte. Er roch heißes Metall und menschlichen Schweiß, und lange, ehe er den Kamm der Düne erreichte, wußte er, daß es mindestens drei, wahrscheinlich aber mehr Männer waren, die auf der anderen Seite des Sandhügels auf ihn warteten.
Wäre Kyle ein normaler Mensch gewesen, dann hätte ihn der Angriff vollkommen überrascht. Eine Gestalt in einem grünbraunen, fleckigen Tarnanzug sprang ihn an, als er die Harley über den Dünenkamm lenkte, und die Bewegung kam selbst für Kyle schnell.
Instinktiv duckte er sich und riß den linken Arm in die Höhe. Der Mann prallte gegen ihn, versuchte sich festzuklammern und wurde zurückgeschleudert, als Kyles Handrücken seine Schläfe traf. Hilflos stürzte er in den Sand zurück.
Aber der Anprall hatte auch Kyle aus dem Gleichgewicht gebracht. Die Harley schlingerte, Sandfontänen stoben unter den Rädern hoch, und der Motor brüllte auf, als Kyle hastig in einen kleineren Gang schaltete und Gas gab, um die bockende Maschine abzufangen.
Es wäre ihm leichtgefallen, sie mit bloßer Körperkraft wieder unter seine Kontrolle zu bringen, aber damit hätte er sich vollends verraten. Kyle bedauerte schon, den ersten Angreifer überhaupt abgewehrt zu haben, aber der Mann war so plötzlich aufgetaucht, daß er selbst ihn überrascht hatte. Statt die Harley herumzureißen und einfach davonzurasen, ließ er es zu, daß das Motorrad vollends aus dem Gleichgewicht geriet und zur Seite kippte. Im letzten Moment erst ließ er sich aus dem Sattel fallen und riß die Arme vor das Gesicht. Das Motorrad rutschte noch ein Stück den Hang hinab, und Kyle selbst prallte auf ein Stück Fels, das aus dem Sand ragte.