Natürlich hatte Gurk recht - Skudder war längst mehr nur als ein mehr oder weniger freiwillig Verbündeter für sie geworden. Trotz ihrer ständigen Streitereien verspürte Charity eine tiefe Zuneigung zu dem hochgewachsenen Hopi-Indianer, und sie ahnte, daß auch er etwas für sie empfand. Wenn Skudder ihr überhaupt irgend etwas absichtlich verschwieg, dann sicherlich nicht aus Heimtücke, sondern wirklich, um sie zu schützen. Aber das änderte nichts daran, daß es weh tat. Und sie fast wahnsinnig vor Zorn machte. Euthanasie ... Nach allem, was sie bisher erlebt hatte, hätte sie dieser weitere Schrecken nicht einmal mehr überraschen dürfen. Fast gewaltsam mußte sie ihre Gedanken zwingen, sich wieder wichtigeren Dingen zuzuwenden.
Mit einem Ruck drehte sie sich herum und wandte sich an Angellica. »Du wirst uns erzählen, wie wir in dieses Shaitaan hineinkommen«, sagte sie.
»Werde ich das?« antwortete Angellica. Sie lächelte flüchtig. »Eigentlich glaube ich das nicht. Ich ...«
»Ich kann dich auch eine Viertelstunde mit Kent oder Skudder allein lassen«, unterbrach sie Charity kalt. »Vielleicht ändert das deine Meinung ein wenig?«
Tatsächlich wirkte Angellicas Lächeln plötzlich nicht mehr völlig überzeugend. Ihr Blick flackerte.
»Das tust du nicht«, behauptete sie. »Und wenn - woher wollt ihr wissen, daß ich euch nicht in eine Falle laufen lasse?«
»Das ist das kleinste Problem«, sagte Charity. Sie deutete auf Gurk. »Er wird bei dir bleiben. Sollten wir nicht zurückkommen - oder sollte gar an unserer Stelle einer deiner Insektenfreunde hier auftauchen -, dann wird es Gurk ein Vergnügen sein, dich umzubringen.«
Die Drohung machte keinen besonderen Eindruck auf Angellica. »Ich bin Shai-Priesterin«, antwortete sie hochmütig. »Mein Leib und meine Seele sind den Göttern des Kosmos geweiht. Glaubst du, ich hätte Angst vor dem Tod, du Närrin?« Sie maß Charity mit einem langen, verächtlichen Blick, musterte dann rasch und sehr viel kälter ihre Schwester und seufzte gekünstelt.
»Aber ich mache euch einen anderen Vorschlag«, fuhr sie fort. »Ihr verschwindet jetzt, alle und auf der Stelle. Ich werde eine Stunde warten, bis ich Alarm schlage. Ich dürfte es nicht, aber ich tue es trotzdem.«
»Wie großzügig«, spöttelte Charity. »Womit haben wir diese Gnade nur verdient?«
»Ich riskiere mein Leben, wenn ich euch nicht sofort melde«, erwiderte Angellica ernst. »Aber ich tue es, weil Lydia meine Schwester ist. Ich weiß, daß sie mich haßt, aber das ändert nichts daran.«
»Jetzt reicht es mir aber«, sagte Kent. »Warum laßt ihr mich nicht einfach zwei Minuten mit dieser Priesterin allein? Danach wissen wir, wie wir in das Shaitaan kommen.«
»Sei still, Kent«, sagte Charity. Sie überlegte angestrengt. Angellicas Überheblichkeit war kein bißchen geschauspielert. Sie tat nicht nur so, als fühle sie sich absolut sicher - sie hatte wirklich keine Angst. Und Charity begriff auch, daß sie mit Drohungen rein gar nichts bei dieser Frau erreichen würden. Angellica war eine Fanatikerin. Sie glaubte an das, was sie sagte - und wie sollte man jemanden einschüchtern, der der Überzeugung war, nach dem Tod in eine bessere Welt zu kommen?
Nur, um ein wenig Zeit zu gewinnen, trat sie ans Fenster und blickte auf die Straße hinaus. Die Stadt war noch immer so ruhig wie vorher, aber jetzt, als Charity wußte, welchen Grund diese Ruhe hatte, hatte der Anblick nichts Friedliches mehr für sie. Im Gegenteil. Die Stille dort unten war die Stille des Todes.
Sie drehte sich wieder herum, lehnte sich gegen die Wand neben dem Fenster und verschränkte die Arme vor der Brust, während sie Angellica ansah. »Früher nannte man diese Situation ein Patt«, sagte sie.
»So heißt das heute auch noch«, antwortete Angellica gelassen. »Aber du täuschst dich - im Moment seid ihr vielleicht im Vorteil, aber das ändert nichts daran, daß ihr verlieren werdet.« Sie schüttelte beinahe traurig den Kopf, sah Charity eine Sekunde lang durchdringend an und begann unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. Ihre Hände vollführten kleine, unbewußte Bewegungen.
»Ich weiß nicht, wer du bist«, sagte sie. »Aber ich glaube nicht, daß du zu diesem Haufen von Kindsköpfen gehörst, der sich Rebellen nennt.« Sie maß Kent mit einem verächtlichen Blick. »Du solltest aufgeben.«
»So?« sagte Charity.
Angellica nickte heftig. »Du hast keine Chance. Niemand kann sich gegen Moron wehren.«
»Vielleicht hat es noch niemand versucht?« fragte Charity.
»Moron ist nicht einfach nur eine Welt«, antwortete Angellica ernsthaft. »Es sind Hunderte von Welten - vielleicht Tausende. Selbst, wenn ihr siegen solltet, würden sie wiederkommen. Was Lydia getan hat, ist dasselbe, was ihr tut: Töte einen Reiter, und sie töten hundert von uns. Befreie einen Planeten, und sie kommen zurück und zerstören ihn.« Sie sah Charity durchdringend an und schritt weiter durchs Zimmer. Ihre Hände hoben sich in einer fast beschwörenden Geste. »Glaubst du denn, ihr wärt die ersten, die versucht haben, Morons Herrschaft zu brechen?« sagte sie. »Es ist schon getan worden, auf Dutzenden von Welten. Keine von ihnen existiert heute noch. Moron zerstört, was es nicht in Besitz nehmen kann.«
»Du weißt eine Menge für eine kleine Priesterin«, sagte Charity.
Angellica lächelte nachsichtig. »Ich habe die Weihen erhalten«, sagte sie. »Ich war auf einigen dieser Welten, von denen ich erzählte. Ihr haltet Moron für grausam, aber das ist nicht wahr. Dieser Planet wäre zugrunde gegangen, wie viele vor ihm, wären die Herren nicht gekommen.«
»Ich verstehe«, erwiderte Charity spöttisch. »Sie wollten uns nur beschützen, nicht? Deshalb haben sie auch neunzig Prozent der Erde samt ihrer Bevölkerung in radioaktiven Staub verwandelt. Wie überaus großzügig von deinen Freunden.«
»Es tut weh, den Krebs herauszuschneiden«, antwortete Angellica kalt. »Aber es rettet manchmal auch das Leben.« Sie lachte ganz leise und machte wieder eine wedelnde Bewegung mit beiden Händen. »Ich habe nicht geglaubt, daß du mich verstehst. Aber es war einen Versuch wert.«
Ihre Bewegung war so schnell, daß Charity sie kaum sah. Sie begriff im gleichen Moment, in dem Angellica herumwirbelte, daß all ihre Worte nur dem einen Zweck gedient hatten - nämlich sie einzulullen und von Angellicas eigentlicher Absicht abzulenken. Aber diese Erkenntnis kam zu spät.
Angellica sprang mit einem überraschend kraftvollen Satz an Skudder vorbei; ihre ausgestreckte Hand klatschte auf den flachen Metallkasten auf dem Schrank neben der Tür, und Charity sah, wie ein grünes Licht darauf zu flackern begann.
Kent, Skudder und Charity schrien fast gleichzeitig auf und versuchten, sich auf die Shai-Priesterin zu werfen.
Gurk kreischte wütend und griff nach Angellicas Kleid, verfehlte es aber und fiel ungeschickt auf Hände und Knie herab.
Und Lydia zog die kleine Maschinenpistole, die Kent ihr gegeben hatte, unter dem Kleid hervor und schoß ihrer Schwester in den Rücken.
Das Krachen der MP-Salve war in dem winzigen Raum fast ohrenbetäubend. Angellica wurde herum und gegen die Wand gewirbelt, starrte ihre Schwester eine Sekunde lang aus ungläubig aufgerissenen, weiten Augen an und brach dann ganz langsam in die Knie. Sie war tot, ehe sie den Boden berührte.
Charity war mit einem Satz bei Lydia und entriß ihr die Waffe. »Bist du verrückt geworden?« keuchte sie.
Lydia sah sie an, aber ihr Blick schien geradewegs durch sie hindurchzugehen. Ein seltsames Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Charity schauderte.
»Warum hast du das getan?« fragte sie. »Sie war deine Schwester, Lydia!«
»Sie hat mich auserwählt«, flüsterte Lydia. »Sie war es, die meine Kinder ausgesucht hat. Ich mußte sie töten.«
»Ja, und damit hast du uns wahrscheinlich alle umgebracht«, sagte Kent wütend. Er kniete neben Angellica nieder, drehte sie auf den Rücken und tastete mit den Fingerspitzen nach ihrer Halsschlagader. »Sie ist tot«, sagte er überflüssigerweise. Seine Augen flammten vor Zorn, als er zu Lydia aufsah. »Warum habe ich Idiot dir nur diese Waffe gegeben?«