»Vielleicht hört ihr einmal für einen Moment auf, euch zu streiten«, mischte sich Gurk ein, »und seht dorthin.« Sein dürrer Zeigefinger deutete auf das Kästchen, das Angellica berührt hatte. Das grüne Licht auf seiner Vorderseite flackerte noch immer, aber sein Rhythmus war jetzt schneller geworden.
Charity reichte Skudder die MP, die sie Lydia weggenommen hatte, trat zum Schrank und beugte sich über den winzigen Apparat. Die Konstruktion war ihr vollkommen fremd. Ein wenig ähnelte es einem altmodischen Telefon, denn es hatte eine Wählscheibe mit mehreren fremdartigen Symbolen. Es gab aber keinen Hörer, dafür aber eine Anzahl kleiner Knöpfe, von denen einer jetzt immer hektischer blinkte.
»Kannst du es abschalten?« fragte Skudder hinter ihr.
»Ich weiß nicht einmal, was es ist«, sagte Charity unglücklich. Einen Moment lang erwog sie den Gedanken, den Apparat einfach zu zerstören, verwarf ihn aber fast sofort wieder.
»Dann laß uns verschwinden«, sagte Skudder. »Und zwar auf der Stelle.«
»Das ist nicht nötig.«
Charity sah überrascht auf, als Lydia mit einem schnellen Schritt neben sie trat, aber sie erhob keine Einwände, als Lydia die Hand nach dem Kästchen ausstreckte, sondern trat im Gegenteil einen Schritt zur Seite, um ihr Platz zu machen. Lydias Hände flogen schnell und geschickt über die Tasten und drückten mehrere davon in einem komplizierten Rhythmus. Das grüne Licht erlosch.
»Der Alarm wird erst nach zwei Minuten wirklich ausgelöst«, sagte sie. »Ich habe ihn abgeschaltet.«
»Woher weißt du, wie das geht?« erkundigte sich Kent mißtrauisch.
»Ich bin einmal versehentlich an den Knopf gekommen«, antwortete Lydia. »Meine Schwester hat mir gezeigt, wie man ihn wieder entschärft.«
Charity atmete hörbar auf. »Danke«, sagte sie. »Das war knapp.«
»Danke?« Kent lachte böse. »Dann bedank dich doch gleich auch dafür, daß sie Angellica erschossen hat. Damit hat sie uns eine Menge Arbeit abgenommen. Jetzt brauchen wir uns wenigstens nicht mehr den Kopf darüber zu zerbrechen, wie wir in den Tempel kommen.«
»Hör auf, Kent«, sagte Charity müde. »Es nutzt überhaupt nichts, wenn wir uns jetzt gegenseitig Vorwürfe machen.«
»Na wunderbar«, knurrte Kent. »Dann können wir ja wieder gehen und so tun, als wäre überhaupt nichts gewesen.«
»Ich kann euch in den Tempel bringen«, sagte Lydia leise.
Kent sah mit einem Ruck auf, und auch Charity blickte sie ungläubig und überrascht zugleich an. »Wie?«
»Ich kenne den Weg«, sagte Lydia. Ihre Stimme war sehr leise, und ihr Blick ruhte unverwandt auf dem Gesicht ihrer toten Schwester. »Und ich kenne das Zeremoniell.«
Charity tauschte einen verwirrten Blick mit Skudder. »Du ... du meinst, du weißt, wie wir in dieses ... Ding hineinkommen?« vergewisserte sie sich.
Lydia nickte. »Es ist gefährlich. Aber es geht.«
»Ohne deine Schwester?« fragte Kent. Sein Gesicht färbte sich dunkel vor Zorn, als Lydia abermals mit einem Nicken auf seine Frage antwortete. Und plötzlich schrie er: »Warum zum Teufel sind wir dann überhaupt hier?!«
Lydia deutete auf Angellica. »Ihretwegen. Sie mußte sterben.«
»Du hast uns nur hierher gebracht, damit wir dir helfen, deine Schwester umzubringen?« brüllte Kent. »Wir haben das alles ...«
»Nein«, unterbrach ihn Lydia. »Nicht nur. Ich hätte sie so oder so getötet. Sie mußte sterben. Aber es gibt ein paar Dinge, die wir brauchen. Kleider und ein paar ... Gegenstände.«
Kent ballte zornig die Fäuste. »Ich glaube ihr kein Wort«, rief er erregt. »Sie ist ja völlig übergeschnappt!«
»Vielleicht«, sagte Gurk. »Aber vielleicht auch nicht.« Sein ohnehin zerknittertes Gesicht legte sich noch mehr in Falten, als er zu Charity aufsah. »Ich weiß nicht viel über die Shait-Priester - aber sie sind sehr mächtig. Niemand stellt Fragen, wenn sie etwas verlangen. Niemand hält sie auf. Nicht einmal die Reiter. Wenn sie ein Kind ausgewählt haben, dann nehmen sie es und bringen es in den Tempel.«
»Und wie?« fragte Skudder mißtrauisch.
»Ein Gleiter kommt und bringt sie durch die Todeszone«, antwortete Lydia an Gurks Stelle. Ihre Stimme war noch immer tonlos, und auf ihrem Gesicht lag noch immer das gleiche, furchtbare Lächeln, das Charity erneut einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Langsam beugte sie sich zu Angellica herab, streckte die Hände aus und löste die dünne Silberkette mit dem Anhänger von ihrem Hals.
»Ein Druck auf diesen Edelstein genügt, um ihn herbeizuführen«, sagte sie.
Charity streckte die Hand nach dem vermeintlichen Schmuckstück aus und zögerte dann, es zu berühren. Ihr Blick glitt forschend über Lydias Gesicht. Charity verstand Kents Mißtrauen nur zu gut, nach dem, was gerade passiert war, und sie fühlte sich immer unbehaglicher - und gleichzeitig spürte sie, daß Lydia die Wahrheit sagte.
»Woher weißt du das alles?« fragte sie.
»Von Angellica«, antwortete Lydia. »Es ist lange her, aber sie hat mir ... alles gezeigt. Ich war sogar einmal mit im Shaitaan.«
»Du?« fragte Gurk zweifelnd. »Niemand betritt einen Shaitaan, der nicht die Priesterweihen hat.«
»Ich weiß«, flüsterte Lydia. »Ich selbst sollte Priesterin werden, wie sie. Aber ich wurde schwanger, ehe ich die Weihen erhielt. Von diesem Tag an hat sie mich gehaßt.«
»Warum?« fragte Skudder.
»Weil sie bestraft wurde«, antwortete Lydia. »Sie zeigte mir Dinge, die sie mir nicht hätte zeigen dürfen. Sie ... wollte mir helfen, damit ich es etwas leichter hätte als sie. Als ich dann schwanger wurde, da wurde sie zurückgestuft. Sie hätten sie getötet, hätte sie nicht Freunde gehabt, die sie schützten. Aber ihr Traum, zur Hohepriesterin geweiht zu werden, war zerschlagen.«
»Und sie hat sich an dir gerächt, indem sie dir deine Kinder nahm«, sagte Charity.
Lydia nickte. In ihren Augen schimmerten Tränen, aber ihr Gesicht blieb starr. »Ja. Sie wollte mich umbringen, damals. Aber dann ... fiel ihr eine bessere Rache ein.«
Charity schwieg betroffen. Sie akzeptierte den Mord an Angellica noch immer nicht, aber sie verstand jetzt wenigstens, warum Lydia es getan hatte. Vielleicht hätte sie nicht anders gehandelt, an ihrer Stelle.
Abermals streckte sie die Hand aus, löste die Kette aus Lydias Fingern und hängte sie sich vorsichtig um. Das Metall fühlte sich sonderbar an - es war weder warm noch kalt, sondern schien überhaupt keine Temperatur zu besitzen.
Und es stammte nicht von dieser Welt.
Charity fühlte sich fast sofort unbehaglich, kaum daß der Edelstein ihre Haut berührt hatte.
Es war wie damals im Sternenschiff, wie immer, wenn sie etwas berührte, das von Moron kam - etwas in ihr schien sich unter der Berührung zu krümmen, als hätte sie glühendes Eisen gestreift.
»Das funktioniert niemals!« behauptete Kent. »Angellicas Verschwinden wird auffallen. Und sie werden merken, daß wir nicht die sind, für die wir uns ausgeben.«
»Niemand wird etwas merken«, widersprach Lydia. »Es gibt Hunderte von Shai-Priesterinnen. Sie kommen von weither, um die Auserwählten zu bringen. Und manchmal unternehmen sie lange Reisen, um nach Kindern zu suchen. Angellica war manchmal wochenlang fort.«
»Und die Leute, die vorhin hier waren?« schnappte Kent.
»Schluß jetzt«, bestimmte Charity scharf. »Wir reden später darüber. Jetzt sollten wir erst einmal von hier verschwinden.« Sie wandte sich an Lydia. »Wir müssen die Leiche verstecken. Kennst du einen Ort, an dem man sie nicht so schnell findet?«