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Lydia deutete mit einer Kopfbewegung nach oben. »Alles, was über dem fünften Stockwerk liegt, ist zerstört. Niemand wohnt dort. Niemand kommt je dorthin.«

»Gut«, sagte Charity. »Dann verstecken wir sie dort und hoffen, daß du recht hast und wirklich niemand nach ihr sucht. Und danach holen wir die Kleider deiner Schwester und was wir sonst noch brauchen, und gehen zurück in Kents Versteck.«

»Ich kann euch sofort ins Shaitaan bringen«, sagte Lydia. »Wir brauchen nur die Kette und ein paar Zeremonienmäntel.«

»Nein«, sagte Charity. »Das Risiko ist zu groß. Außerdem brauchen wir noch ein paar Dinge aus dem Versteck.« Sie schlug mit der flachen Hand auf die kleine Maschinenpistole in ihrem Gürtel. »Ich fühle mich nicht besonders sicher, nur mit diesem Spielzeug bewaffnet. Und wir können auch Net und Bart nicht einfach zurücklassen.«

Kent fuhr auf. »So eine Chance bekommen wir nie wieder!«

»Das kann schon sein«, antwortete er Charity ruhig. »Aber die haben wir auch morgen noch.«

Und genau in diesem Punkt sollte sie sich täuschen. Sie hatten sie nicht einmal in diesem Moment.

7

Der Eingang war so perfekt getarnt, daß vermutlich nicht einmal Kyle ihn entdeckt hätte. Er war sogar auf dem Weg hierher daran vorbeigekommen, und mit ziemlicher Sicherheit war er von einem halben Dutzend Überwachungs- und Ortungsgeräten erfaßt worden, ohne es auch nur zu bemerken. Die Erkenntnis beunruhigte Kyle - nicht, weil er die Technik der Rebellen fürchtete, sondern weil sie ein weiteres Indiz war, daß seine Fähigkeiten rapide abnahmen. Etwas stimmte nicht mit ihm. Die Entwicklung war noch lange nicht bedrohlich, aber er mußte sie im Auge behalten.

»Du wartest hier.«

Der Mann, der sich ihm als Arson vorgestellt hatte, deutete auf eine niedrige Tür. Sie war nur angelehnt, so daß Kyle erkennen konnte, daß sie äußerst massiv war - fünf Zentimeter dick und aus altem, verrostetem Eisen. Selbst seine Kräfte würden nicht ausreichen, sie gewaltsam zu öffnen. Der Raum dahinter war winzig: eine nackte Betonkammer, kaum hoch genug, um aufrecht darin zu stehen, und knapp fünf mal fünf Schritte groß. Aus den Wänden ragten abgeschnittene Rohre und Kabelenden. Kyle vermochte nicht zu erkennen, welchem Zweck diese Kammer einmal gedient hatte.

Jetzt war sie eindeutig ein Gefängnis. Auf dem Boden lag eine zerschlissene Matratze, daneben ein primitiver, offenbar mit Flüssiggas zu betreibender Heizofen. Der Raum stank.

Kyle trat widerspruchslos durch die Tür und wandte sich wieder zu Arson um. Der bärtige Rebell musterte ihn auf eine Art, die Kyle nicht gefiel. Sein Herz schlug schnell, und Kyle registrierte eine stark vermehrte Schweiß- und Adrenalinausschüttung. Arson ... hatte Angst.

Aber warum? Spürte er, daß Kyle nicht der war, der er zu sein vorgab? Aber das war unmöglich.

»Was habt ihr mit mir vor?« fragte er, als Arson die Tür schließen wollte.

Arson zögerte. Er sah Kyle an, aber aus irgendeinem Grund gelang es ihm nicht, seinem Blick standzuhalten. Er wurde immer nervöser.

»Nichts«, sagte er schließlich. »Nichts, wenn du die Wahrheit sagst.« Er schloß die Tür, aber ehe er den Riegel einschnappen ließ, öffnete er sie noch einmal und sah zu Kyle herein. »Brauchst du irgend etwas?« fragte er.

»Ich bin durstig«, antwortete Kyle.

»In Ordnung. Ich lasse dir Wasser bringen.«

Die Tür fiel mit einem dumpfen Laut ins Schloß, und Kyle war allein. Es war vollkommen dunkel, und plötzlich spürte er auch, wie kalt es hier drinnen war. Rasch erhöhte er seine Körpertemperatur und veränderte seine Hautoberfläche so, daß sie kaum noch Wärme abstrahlte. Dann setzte er sich mit angezogenen Knien auf die Matratze, schloß die Augen und versank in eine Mischung aus Schlaf und Trance, in der er weder das Verstreichen der Zeit noch die Kälte oder den quälenden Durst spürte. Trotzdem blieb ein winziger Teil seines Bewußtseins wach - als Arson nach einer Weile zurückkam, um ihm etwas zu trinken zu bringen, fand er Kyle zitternd vor Kälte auf der Matratze hockend vor. Kaum hatte er die Tür hinter sich wieder geschlossen, da leerte Kyle die Tasse, die er ihm mitgebracht hatte, mit einem Zug und versank abermals in seinen tranceähnlichen Schlaf.

Als ihn die lautlose Alarmsirene hinter seinen Schläfen das nächste Mal weckte, waren fast anderthalb Stunden vergangen. Schritte näherten sich der Tür, die Schritte von mehreren Personen, von denen eine eine Frau zu sein schien, dann wurde der Riegel zurückgeschoben, und die Tür ging quietschend auf. Der grelle Lichtstrahl eines starken Handscheinwerfers fiel auf sein Gesicht.

Kyles Pupillen verengten sich und filterten den Großteil der Helligkeit heraus, so daß er die drei Gestalten unter der Tür deutlicher erkennen konnte als sie ihn. Trotzdem hob er hastig die Arme vor das Gesicht und blinzelte. Seine Haut war jetzt grau, und unter den Augen lagen dunkle Ringe. Er sah aus wie ein Mann am Ende seiner Kräfte.

»Komm raus«, sagte eine Stimme. Sie gehörte nicht Arson.

Kyle erhob sich so ungeschickt, wie er es gerade noch wagte, um nicht zu übertreiben, trat gebückt durch die Tür und blinzelte mehrmals, als müssen seine Augen sich an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnen. Während er es tat, musterte er seine Gegenüber genau.

Außer Arson waren noch vier weitere Personen da: eine schlanke, schmalgliedrige Eingeborene mit kurzgeschnittenem, dunklem Haar - ihrem Teint und ihren flinken Bewegungen zufolge eine Wastelanderin. Zwei Männer, die die fleckigen Phantasie-Uniformen der Rebellen trugen, und ein fünfter, sehr großer Mann, an dem Kyle ein zweifingerbreiter, grüngefärbter Haarstreifen auffiel. Kyle stufte diesen Mann sofort als den Gefährlichsten ein, nicht nur, weil er ein wahrer Riese war. Sein Gesicht hatte einen fast dümmlichen Ausdruck, aber Kyle merkte sofort, daß dieser Eindruck täuschte. Hinter den Augen des Riesen lauerte ein messerscharfer Verstand.

»Das ist Bart«, sagte Arson mit einer Geste auf den Mann mit dem grüngefärbten Haar. »Ihr kennt euch?«

Kyle schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Aber ich habe von dir gehört. Du bist Skudders Stellvertreter, nicht wahr?« Er wandte sich an die Planetengeborene. »Und du mußt Net sein.«

»Hast du auch von ihr gehört?« fragte Bart lauernd.

Kyle fuhr innerlich zusammen. Hatte er einen Fehler gemacht? Seine Worte hatten Barts Mißtrauen geschürt, statt zu besänftigen. Zögernd nickte er.

»Ich habe euch gesucht«, sagte er. »Das heißt, nicht euch beide, sondern Skudder und diese Frau, die bei ihm ist. Man hat mir erzählt, daß ihr beide sie begleitet. Wo sind sie?«

Arson wollte antworten, aber Bart machte eine rasche, kaum bemerkbare Bewegung, und der Rebell schwieg.

»Wir bringen dich zu ihnen«, sagte er. »Komm mit.«

Das war gelogen. Arson sah nicht einmal in seine Richtung, aber Kyle entging das unmerkliche Zusammenzucken des Rebellen keineswegs. Seine Pupillen weiteten sich um eine Winzigkeit, und der Geruch seines Schweißes änderte sich. Neben anderen Talenten war Kyle auch so etwas wie ein wandelnder Lügendetektor. Es war möglich, ihm etwas zu verschweigen. Aber es war nicht möglich, ihn zu belügen. Captain Laird und der Shark waren entweder gar nicht hier, oder Bart hatte nicht vor, ihn wirklich zu ihnen zu bringen.

Er ließ sich nichts von alledem anmerken, sondern folgte den Männern tiefer in die unterirdische Anlage hinein.

Der erste Eindruck, den er von dem Rebellenversteck gehabt hatte, bestätigte sich: Das Labyrinth unterirdischer Gänge und Stollen war nichts anderes als die ehemalige Kanalisation einer Stadt. Kyle befragte seinen Erinnerungssektor und erfuhr, daß es gerade in diesem Teil des Planeten ausgedehnte Zerstörungen gegeben hatte. Die Eingeborenen hatten sich erbittert gegen die Kolonisation zur Wehr gesetzt, und da sie bereits über eine - wenn auch primitive - thermonukleare Waffentechnologie verfügten, hatten sie einen Großteil ihres eigenen Planeten verwüstet, ehe es den Sturmtruppen gelang, ihren Widerstand zu brechen.