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Es war, dachte sie schaudernd, als versuche sie einen Blick in eine völlig fremde, feindselige Welt zu tun. Die Stahlburg schien nach Regeln einer Geometrie erbaut worden zu sein, die aus einem fremden Universum stammen mußten.

Wie hatten Gurk und Skudder dieses Ding genannt? Shait-Tempel?

Charity hatte nicht die mindeste Ahnung, was ein Shait-Tempel war und wen oder was man darin anbetete. Aber jetzt schien das Wort allein einen düsteren, drohend nachhallenden Klang zu bekommen. Vielleicht, dachte sie, war das bedrückendste daran die Vorstellung, daß dieses Monstrum von Tempel zwar von den Außerirdischen erbaut, aber von Menschen bewohnt wurde.

»Es wäre Selbstmord, sich dem Ding auch nur zu nähern«, sagte Net leise.

»Aber was tun sie dort?« murmelte Charity. Dieses ... Etwas konnte nicht nur ein Tempel sein, dachte sie, ganz egal, welche monströse Gottheit dort angebetet wurde. Es war einfach zu groß.

Net antwortete erst nach einigen Sekunden auf ihre Frage. »Außer Kinder zu entführen, meinst du?«- Sie zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Niemand ist einem solchen Ding jemals nahe genug gekommen, um es herauszufinden.«

Sie stand auf. »Nur die Priester dürfen sich einem Shaitaan weiter als bis auf fünf Meilen nähern.«

Charity blickte wieder auf die so trügerisch glatte Sandfläche herab, in die die Felsebene kaum zehn Meter unter ihnen überging. Und diese Sandebene war nur der erste - und, wie Gurk behauptet hatte, harmloseste - von insgesamt drei Verteidigungsringen, die das Shaitaan umgaben, zum Schutz vor ...

Ja, vor was eigentlich? dachte sie verwirrt.

Es war jetzt gut zwei Wochen her, daß sie aus dem Schlaftank gestiegen und in diese völlig fremde, zerstörte Welt hinausgetreten war, und sie kannte sie längst noch nicht gut genug, um sich wirklich ein Urteil erlauben zu können. Trotzdem war sie sicher, daß es im Umkreis etlicher tausend Meilen nichts gab, was diesem Monstrum von Bauwerk dort hinten gefährlich werden konnte.

Verwirrt drehte sie sich zu Net herum und ging ohne ein weiteres Wort los. Die Wastelanderin folgte ihr schweigend. Die zwanzig Minuten, die sie im Sand gelegen und den monströsen Tempel angestarrt hatten, waren vergeudete Zeit gewesen. Skudder hatte sie gewarnt, sich der Todeszone zu nähern, die das Shaitaan umgab, aber sie hatte sich einfach überzeugen müssen, daß das, was sie aus der Entfernung gesehen hatten, auch wirklich wahr war. Jetzt bedauerte sie es beinahe. Großer Gott, dachte sie, was haben sie aus unserer Welt gemacht?

Skudder hatte ein Feuer entzündet, als sie zurückkamen, und nicht zum ersten Mal fragte sich Charity, wie um alles in der Welt er es immer wieder fertigbrachte, ein solches Feuer zu entfachen, ohne daß auch nur eine Spur von Rauch zu sehen war.

Wortlos setzte sie sich neben ihn, angelte einen der Stöcke herunter, auf die Bart irgendein Stück Fleisch gespießt hatte, und begann lustlos zu essen.

Shait. Shaitaan. Das Wort ging ihr nicht aus dem Sinn. Irgendwo hatte sie dieses Wort schon einmal gehört, und irgendwann einmal hatte sie sogar gewußt, was es bedeutete. Auch wenn sie auf der anderen Seite ganz genau wußte, daß das unmöglich war.

Sie verscheuchte den Gedanken und beugte sich erneut vor, um einen weiteren Spieß vom Feuer zu nehmen. Bart lächelte sie über die Flammen hinweg an. »Schmeckt, nicht wahr?«

Charity nickte. »Ausgezeichnet«, lobte sie. »Was ist es?«

Der Shark grinste noch ein bißchen breiter. »Willst du das wirklich wissen?«

Charity blinzelte, blickte das gebratene Stück Fleisch in ihrer Hand eine Sekunde lang irritiert an und schüttelte schließlich den Kopf. »Eigentlich nicht. Hauptsache«, fügte sie lächelnd hinzu, »es macht satt.«

»Genau das hat es wahrscheinlich über mich gedacht, als es noch lebte«, antwortete Bart grinsend. Er stand auf, ging zu seinem Motorrad und kam mit einer Wasserflasche zurück. Charity griff dankbar danach, als er sie ihr hinhielt, trank einen gehörigen Schluck und reichte sie Bart zurück. Sie hatte immer noch Durst, aber sie mußte sich beherrschen. Die drei letzten Wasserstellen, an denen sie vorbeigekommen waren, waren ausnahmslos verseucht gewesen, und ihre Vorräte waren bereits bedenklich geschrumpft. Und nicht nur, was das Wasser anging.

Überhaupt war ihre Lage alles andere als rosig, ganz vorsichtig ausgedrückt. Die Lebensmittel, die sie aus der Bunkerfestung mitgenommen hatten, waren schon vor drei Tagen zur Neige gegangen, und in den Tanks der drei Harleys schwappte nur noch ein kümmerlicher Rest Benzin. Wenn sie die Rebellen nicht im Laufe dieses oder spätestens des nächsten Tages fanden, dann würden sie die Welt zu Fuß befreien müssen ...

Falls sich die Welt nicht vorher von ihnen befreite, dachte sie, wofür eine Menge mehr sprach als für die andere Möglichkeit. Es war ein kleines Wunder, daß sie überhaupt noch lebten. Ohne Skudders fast schon unheimliche Instinkte, ohne Nets hervorragende Ortskenntnis, ohne Barts Kraft und vor allem ohne ein schon fast aberwitziges Glück wären sie niemals so weit gekommen.

Es war eine Woche her, daß sie das Shark-Lager verlassen hatten, und sie waren allein in den beiden ersten Tagen fast ein dutzendmal angegriffen worden; acht- oder neunmal von Reitern, die Daniel gleich zu Hunderten losgeschickt zu haben schien, und zweimal von kleinen, scheibenförmigen Fluggeräten, die aus dem Himmel stürzten und auf alles schössen, was sich bewegte. Skudder hatte ihr erklärt, daß diese winzigen fliegenden Killer vielleicht das einzige waren, was die überlebenden Menschen noch mehr fürchteten als die Reiter. Und nachdem Charity das erste Mal ihre ungeheuerliche Feuerkraft gesehen hatte, glaubte sie ihm.

Skudder sah ihr eine Weile schweigend beim Essen zu und schien darauf zu warten, daß sie etwas sagte. Als Charity nur genüßlich weiterkaute, brach er schließlich von sich aus das Schweigen. »Du hast es gesehen, nicht wahr?«

Charity antwortete nicht. Eigentlich war Skudders Frage ziemlich blödsinnig. Aber Charity sprach die scharfe Antwort, die ihr auf der Zunge lag, nicht aus; schon, weil sie einfach keine Lust mehr hatte, Net und den beiden anderen eine weitere Runde in ihrem und Skudders kleinen Machtkampf vorzuspielen. Und sie hatte sich Skudders Zynismus redlich verdient - verdammt, was mußte noch passieren, bis ihr Stolz ihr gestattete, endlich zuzugeben, daß sich Skudder in dieser Welt besser auskannte als sie?

Trotzdem: Der Gedanke, daß er bei ihrem kleinen Katz-und-Maus-Spiel schon wieder einen Punkt gutgemacht hatte, ärgerte sie noch mehr. Doch diesmal zog sie es vor, zu schweigen. Sie war gereizt, aber das war auch nur zu verständlich. Sie war nur ein Mensch. Manchmal fragte sie sich allen Ernstes, ob er einer war.

»Wir sollten von hier verschwinden«, sagte sie. »Ich fühle mich nicht wohl, in der Nähe dieses ... Dinges.«

»Warum?« fragte Gurk. »Er tut dir nichts, solange du ihm nicht zu nahe kommst. Außerdem sind wir hier sicher. Die Ameisen suchen uns überall, aber bestimmt nicht in der Nähe eines Shaitaan.«

Charity blickte den Zwerg einen Moment lang feindselig an. Er irritierte sie noch immer, trotz all der Zeit, die sie jetzt zusammen waren, und es war ganz und gar nicht nur sein absurdes Aussehen, obwohl dies allein schon lächerlich genug war: El Gurk - Abn El Gurk Ben Amar Ibn Lot Fuddel Der Vierte, Informationen und Schwarzmarktwaren aller Art, Mietkiller und Drogen gegen Aufpreis, wie sein korrekter Name lautete - war knapp anderthalb Meter groß, dabei aber so unproportioniert, als hätte jemand drei völlig verschiedene Körper genommen und versucht, einen vierten daraus zusammenzubasteln. Gurks Arme und Beine waren dürr und knochig, dafür hätte sein Kopf einem Riesen gehören können. Seine Augen waren groß und ganz eindeutig nicht menschlich: Es gab kein Weiß darin, sondern nur verschiedene Schwarztöne. Charity hatte ihn nie gefragt - warum eigentlich nicht? -, aber sie war sehr sicher, daß Abn El Gurk Ben Amar Ibn Lot Fuddel Der Vierte nicht auf der Erde geboren war.