Charity ließ sich vorsichtig zu Boden sinken, wandte sich um und kroch auf Knien und Ellbogen zu den anderen zurück, die in einem Spalt zwischen zwei Felsen Schutz gesucht hatten. Der Platz war viel zu eng für fünf Personen, aber es war das einzige Versteck in weitem Umkreis gewesen, das ihnen auch Schutz vor einer Entdeckung aus der Luft gewährte. Charity zweifelte keine Sekunde daran, daß die fliegenden Killer dort oben nicht nur mit Waffen, sondern auch mit allen nur denkbaren Beobachtungs- und Ortungsgeräten ausgerüstet waren.
Erst als sie den sicheren Schutz der Felsen erreicht hatte, wagte sie es, sich aufzurichten und wieder Atem zu holen. Die Luft in ihrer Kehle war heiß. Sie waren fast zwei Meilen vom Eingang des unterirdischen Rebellenverstecks entfernt, und trotzdem spürten sie die Hitze der Explosionen so stark, als stünden sie unmittelbar daneben.
Kent starrte sie an. Er sagte nichts, aber Charity sah die verzweifelte Hoffnung in seinen Augen. Auch sie schwieg, und ihr Kopfschütteln war nur angedeutet. Trotzdem wandte sich Kent mit einem Ruck um. Dort drüben lebte niemand mehr. Selbst, wenn ein paar von Kents Freunden den Angriff des Megamannes überlebt haben sollten - den Hagel aus Laserschüssen und Bomben, den Daniels Drohnen seit gut zwanzig Minuten auf die Anlage abfeuerten, konnte niemand überstehen.
Sie hatten wieder einmal Glück gehabt, überlegte Charity. Sie waren knapp zwei Meilen vom getarnten Eingang der unterirdischen Anlage entfernt gewesen, als die ersten Flugscheiben am Himmel auftauchten; und wahrscheinlich verdankten sie es nur der Programmierung der robotgesteuerten Drohnen, daß sie überhaupt noch lebten. In den ersten fünf Minuten hatten die Drohnen die geheime Basis der Rebellen nach allen Regeln der Kunst zusammengebombt. Erst danach waren sie ausgeschwärmt, um auch die nähere Umgebung nach Überlebenden abzusuchen. Hätten sie sofort mit einem Flächenbombardement begonnen, hätten sie keine Chance gehabt.
Charity tastete nach der Wasserflasche an ihrem Gürtel. Ihre Kehle brannte von der trockenen Hitze, die sie eingeatmet hatte. Aber sie widerstand der Versuchung zu trinken. Keiner von ihnen konnte voraussagen, wie lange sie in diesem Versteck bleiben mußten oder wann sie wieder Wasser fanden.
»Sieht so aus, als hätten wir den Burschen ein bißchen zu spät erledigt«, sagte Gurk plötzlich.
Skudder und Lydia reagierten überhaupt nicht. Kent sah den Gnom aus brennenden Augen an, während Charity einen Moment brauchte, um zu begreifen, was er damit meinte.
»Den Megamann?«
Gurk nickte. »Er muß gemeldet haben, wo das Rebellenversteck liegt.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Skudder plötzlich.
»Wieso?« Kents Stimme klang scharf, fast feindselig, aber der hochgewachsene Hopi-Indianer ließ sich davon nicht im geringsten beeindrucken.
»Weil sie dann schon viel früher zugeschlagen hätten«, antwortete er ungerührt. Mit einer Kopfbewegung deutete er auf das Inferno, in das die Drohnen das Rebellenversteck verwandelt hatten. »Wenn ihr mich fragt, dann haben sie schon immer gewußt, wo dieses Versteck liegt.«
»Was für ein Unsinn!« protestierte Kent. Er schrie fast. Seine Hände zitterten. Skudder wollte etwas erwidern, aber Charity warf ihm einen raschen, beschwörenden Blick zu und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Skudder verstand und schwieg.
Dabei wußten sie alle - Kent eingeschlossen -, daß Skudder nur zu recht hatte. Wahrscheinlich ging auf diesem Planeten so gut wie nichts vor sich, von dem die Invasoren nicht wußten. Aber bisher waren Kents Rebellen keine Gefahr gewesen, ganz einfach, weil sie keine wirklichen Rebellen gewesen waren, sondern im Grunde nur große Kinder, die ein bißchen Krieg spielten, es aber nicht wagten, wirklich etwas zu unternehmen.
Dafür sorgte schon die Regel der Hundert, dachte Charity bitter. Vielleicht war das, was sie gerade erlebten, die Antwort auf Angellicas Tod.
Und als hätte er ihre Gedanken gelesen, wandte Kent den Kopf und starrte Lydia an. »Das ... das ist deine Schuld«, sagte er. »Das wäre nicht passiert, wenn du nicht ...«
»Das reicht«, unterbrach ihn Charity scharf. Kent wollte auffahren, aber sie blickte ihn so wütend an, daß er verstummte.
»Es spielt wirklich keine Rolle, warum sie es tun«, sagte sie bestimmt. »Wenn wir jetzt anfangen, uns gegenseitig fertigzumachen, dann hat Daniel schon gewonnen.«
»Das hat er doch sowieso schon!« schnappte Kent. »Verdammt, was glaubst du, wie lange wir noch leben? Wo willst du denn hin?« Er deutete auf die brennende Ebene dicht vor ihnen, fuhr hoch und stieß sich schmerzhaft den Kopf an den Felsen über sich. Aber er verzog nicht einmal das Gesicht. »Was denkst du, wie weit wir kommen, zu Fuß und ohne Wasser? In die Stadt können wir nicht zurück, und durch die Wüste sind es zweihundert Meilen bis zum nächsten Ort! Ganz davon abgesehen, daß es spätestens morgen früh hier von Reitern wimmeln wird.«
Charity sah ihn gleichermaßen erschrocken wie fragend an, und auf Kents Gesicht breitete sich ein triumphierendes, böses Grinsen aus.
»Er hat recht«, sagte Lydia. Es waren die ersten Worte, die sie seit Stunden sprach. Charity hatte nicht geglaubt, daß Lydia überhaupt registrierte, was rings um sie herum vor sich ging. »Sie kommen immer, wenn die Drohnen irgend etwas angegriffen haben.«
»Ein Grund mehr, von hier zu verschwinden«, sagte Gurk.
»Und wie?« Skudder deutete zornig auf die rasenden Schemen am Himmel. Das Feuer ließ allmählich nach, aber immer wieder stieß einer der kleinen runden Gleiter auf die brennenden Ruinen oder auch auf die Wüste herab und gab eine kurze Salve aus seinen Lasern ab. »Die Dinger schießen auf alles, was sich bewegt!«
»Es sind nur vier Stück«, antwortete Gurk patzig. »Wir könnten sie abschießen!«
»Damit fünf Minuten später vierhundert von ihnen hier auftauchen, ja?« sagte Skudder. »Du bist ja verrückt, Zwerg!«
»Hast du vielleicht eine bessere Idee, Bohnenstange?« gab Gurk giftig zurück.
»Hört auf, euch zu streiten«, befahl Charity knapp. Sie konnten nicht hier bleiben und einfach abwarten, was geschah. Aber sie konnten auch nicht weg. Selbst, wenn sie es gegen jede Logik schaffen sollten, den Drohnen zu entkommen - es gab nichts, wohin sie fliehen konnten.
Das hieß - fast nichts, dachte Charity.
Ihr Blick suchte den verschwommenen Schatten des Shaitaan. Das titanische Bauwerk war viel zu weit entfernt, um in der Nacht noch sichtbar zu sein, aber dann und wann brach sich ein Lichtreflex auf den metallenen Türmen, so daß sie wie Schemen aus dem Nichts auftauchten und wieder verschwanden. Charity versuchte die Entfernung bis zum Bauwerk zu schätzen. Es gelang ihr nicht. Es konnten fünf Meilen sein, ebenso gut aber auch fünfzig. Sie wußte ja nicht einmal, wie groß dieses Monstrum von Gebäude war.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte Gurk plötzlich. Charity sah auf und wurde sich erst jetzt der Tatsache bewußt, daß nicht nur Gurk, sondern auch die drei anderen sie anstarrten. »Es ist unmöglich.«
»Das ist es nicht«, sagte Lydia. »Es sind nur vier oder fünf Meilen bis zum Rand der Todeszone. Wenn wir es bis dahin schaffen, können wir einen Gleiter herbeirufen.«
»Ah ja«, sagte Gurk spöttisch. »Und dann?«
»Es gibt kaum Wachen im Shaitaan«, antwortete Lydia. »Es ist ein heiliger Ort. Niemand würde es wagen, ihn zu freveln.«
»Und dann?« sagte Gurk spöttisch. »Wollen wir zu fünft das Shaitaan stürmen und eine eigene Republik ausrufen?«
»Unsinn«, antwortete Charity scharf. »Ich habe nicht vor, in dieses Ding zu gehen.« Ihre Hand tastete nach dem Anhänger an ihrem Hals. »Aber vielleicht können wir einen der Gleiter kapern. Die Dinger sind schnell. Ehe sie merken, was wir tun, sind wir schon hundert Meilen entfernt.«