»Oder in Atome zerschossen«, fügte Gurk hinzu. »Wir ...«
»Kannst du so ein Ding fliegen oder nicht?« unterbrach in Charity.
Gurk zögerte. Vor ein paar Stunden, überlegte Charity, hätte er wahrscheinlich noch nein gesagt. Aber seit dem Zwischenfall in Angellicas Wohnung wußten sie alle, daß er weitaus mehr von der Technik der Invasoren verstand, als er zugegeben hatte. Nach ein paar Sekunden nickte er widerwillig.
»Wir brauchen ein Kind«, sagte Lydia plötzlich.
»Ein Kind?« wiederholte Charity überrascht.
»Es ist die Aufgabe der Priesterinnen, Kinder in den Tempel zu bringen«, erinnerte Lydia. »Und der einzige Grund, aus dem selbst sie das Shaitaan betreten dürfen.«
»Wo zum Teufel sollen wir jetzt ein Kind herbekommen?« fragte Charity. »Sollen wir vielleicht eins stehlen?«
»Ein Säugling wäre ideal«, erwiderte Lydia. »Aber manchmal nehmen sie auch ältere Kinder. Nicht oft, aber es kommt vor.«
Charity blinzelte verständnislos - und dann lächelte sie plötzlich, als ihr Blick dem Lydias folgte.
»O nein«, sagte Gurk. »Bestimmt nicht!«
Charity Lächeln wurde noch ein wenig breiter, und plötzlich begann auch Skudder zu grinsen, und Gurk sagte noch einmal und noch energischer:
»Ganz bestimmt nicht!«
Irgendwann, tief in der Nacht, öffnete der Megamann die Augen und richtete sich auf. Schmerz war in ihm, ein abgrundtiefer Schmerz. Fast wäre er vernichtet worden. Doch er lebte. Seine Augen funktionierten noch, seine Arme, seine Beine. Dumpf spürte er, wie die Kraft in seinen geschundenen Körper zurückfloß. Er hatte eine Aufgabe, daran erinnerte er sich wieder mit Deutlichkeit. Er mußte Charity Laird finden und stellen. Nichts sonst zählte. Er machte einen Schritt und dann wieder einen. Die Schmerzen in ihm wallten zurück. Er würde sie finden - und wenn es ihn sein Leben kostete, aber noch durfte er nicht sterben.
Kyle sah, wo er sich befand. In der Wüste, Dunkelheit und Schwärze um ihn, und doch mußte es Spuren geben, und er würde sie finden. Charity Laird mußte glauben, daß er tot sei. Vielleicht würde sie unvorsichtig und leichtsinnig werden. Dann würde er um so eher zuschlagen können.
»Das ist völliger Irrsinn!« kreischte Gurk. »Sie werden keine zehn Sekunden darauf hereinfallen!«
»Das brauchen sie auch nicht«, antwortete Charity. »Es reicht völlig, wenn sie das Ding landen. Alles andere erledigen wir damit.« Sie ließ die Hand auf die Waffe an ihrer Seite fallen und lächelte so zuversichtlich, wie sie nur konnte. Ihr Plan wies ungefähr so viele Löcher auf wie ein Fischernetz. Gurk hatte völlig recht - was war Wahnsinn. Aber sie hatten keine andere Wahl mehr.
Gurks Antwort drang nur unverständlich unter dem gewaltigen Strohhut hervor, den sie ihm aufgesetzt hatten, um seinen Riesenschädel wenigstens notdürftig zu verbergen. Der Gnom wäre wahrscheinlich noch viel wütender gewesen, hätte er auch nur geahnt, wie lächerlich er in der Verkleidung aussah, die Charity und Net aus Resten von Angellicas Kleidungsstücken zusammengebastelt hatten. Selbst Charity mußte mit Gewalt ein Grinsen unterdrücken. Sie konnte nur hoffen, daß Lydia recht hatte und sich an Bord des Gleiters, der sie abholen würde, wirklich keine Menschen befanden. Ein Insektenkrieger von Moron würde vielleicht auf die Verkleidung hereinfallen. Ein Mensch nicht.
»Okay«, sagte sie. »Geht in Deckung.«
Net, Kent und Skudder verschwanden wortlos zwischen den Felsen, während Lydia neben Gurk Aufstellung nahm und nach seiner Hand griff. Sie trug jetzt die gleiche Art von Kleidung wie Charity - ein buntbesticktes, rot und schwarz und golden glitzerndes Gewand, das ihre Gestalt bis zu den Knöcheln verbarg. Ihr Gesicht lag im Schatten einer spitzen Kapuze, und ihre Hände steckten in ellbogenlangen Handschuhen aus einem feinen Goldgewebe. Es war eines der beiden Zeremoniengewänder, die sie aus Angellicas Kleiderschrank mitgenommen hatten, so wie auch die beiden armlangen Stäbe aus goldglänzendem Metall zur Ausrüstung der Shai-Priesterin gehört hatten.
Charity fühlte sich nicht wohl in dieser Kleidung. Sie kam sich auf ihre Weise ebenso lächerlich vor wie Gurk. Aber sie glaubte mittlerweile zu begreifen, warum die Kleider und Uniformen, die die Invasoren ihren menschlichen Hilfstruppen zur Verfügung stellten, allesamt aussahen, als stammten sie aus einem billigen Science-Fiction-Film der sechziger Jahre: weil sie genau daher kamen. Schwarzes Lackleder und Roben aus Gold - primitiv, aber eindrucksvoll. Lieutenant Stone war wirklich ein guter Ratgeber gewesen.
Fast widerwillig griff sie nach Gurks anderer Hand und hielt sie fest, wodurch er nun vollends wie ein Kind aussah, das die beiden Frauen zwischen sich führten. Mit der anderen Hand tastete sie nach dem schweren goldglänzenden Anhänger an ihrem Hals, zögerte noch eine Sekunde - und drückte entschlossen auf den Edelstein, der darin eingelassen war. Sie spürte, wie der künstliche Rubin ein wenig nachgab und fühlbar einrastete. Irgendwo dort drüben in dem bizarren Gebäude würde jetzt eine Lampe aufleuchten.
Die Zeit schien stehenzubleiben. Lydia hatte ihr gesagt, daß es nicht lange dauern würde - eine kleine Flotte von Gleitern stand immer bereit, um auf den Ruf einer Shai-Priesterin zu reagieren -, und für die fliegenden Scheiben waren die fünf Meilen über die Todeszone nur ein Katzensprung. Aber Zeit war relativ, und Charity schössen allein in den nächsten zwei Minuten mindestens zweihundert Gründe durch den Kopf, aus denen ihr Plan gar nicht funktionieren konnte. Aber es gab jetzt kein Zurück mehr.
»Sie kommen«, sagte Gurk plötzlich.
Charity sah auf, aber es dauerte noch Sekunden, bis auch sie den winzigen blitzenden Punkt gewahrte, der sich von einem der Spiraltürme gelöst hatte und sich in ihre Richtung bewegte. Ihr Herz schlug schneller.
»Das ist jetzt die letzte Chance«, maulte Gurk. »Noch können wir abhauen. Wenn ihr vernünftig seid, dann ...«
»Halt die Klappe«, unterbrach ihn Charity.
»Hmpf!« machte Gurk, schwieg aber gehorsam.
Der Gleiter kam rasend schnell näher. Wie fast alle Fahrzeuge der Invasoren glich er einer Scheibe, aber er war größer als die meisten Gleiter, und über seine Basis zog sich ein goldglänzender, gezackter Kamm, rechts und links davon befanden sich zwei Sichtluken aus geschwärztem Glas. Auf den ersten Blick sah das Ding aus wie der Schädel eines stählernen Drachen.
Der Gleiter wurde langsamer und schien zur Landung anzusetzen, schwenkte aber dann plötzlich ab und flog einen weit ausholenden, niedrigen Kreis über den Felsen. Charity fuhr erschrocken zusammen.
»Was tut er da?« flüsterte sie.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Lydia ebenso leise. »Normalerweise landen sie sofort.«
»Er sucht eine gute Schußposition«, giftete Gurk. »Ich habe doch gleich gesagt, das ist Irrsinn!«
Wahrscheinlich hatte er sogar recht, dachte Charity. Aber wenn, dann kam diese Einsicht ein wenig zu spät.
Die Flugscheibe hatte ihren Kreis vollendet und begann jetzt langsam zu sinken. Charity sah eine flüchtige Bewegung hinter den abgedunkelten Scheiben, und fast im gleichen Moment fielen ihr auch die beiden kurzen, in mattschimmernden Kristallen endenden Rohre auf, die rechts und links auf der Flug-Scheibe zu sehen waren. Der Gleiter war mit gefährlichen Waffen ausgerüstet.
Mit schier unerträglicher Langsamkeit sank der Gleiter tiefer. Seine abgeflachte Unterseite berührte den Boden. Sand wirbelte auf. Charity griff instinktiv nach ihrer Kapuze, und auch Gurk riß seine Hand los und hielt hastig seinen Strohhut fest. Ein Kind mit dem Gesicht eines Hundertjährigen hätte wohl nicht einmal einen Moroni überzeugt.
Als sich der Sturm legte, war die Scheibe gelandet. Eine schmale Tür öffnete sich summend, und die bizarre Gestalt einer Ameise erschien in der Öffnung. Sie machte keine Anstalten, aus dem Gefährt herauszukommen.