Kyle lief so schnell, er konnte - aber natürlich nicht schnell genug. Der Gleiter kam näher und begann zu sinken. Hastig errechnete Kyle den Punkt, an dem der Gleiter den Boden berühren würde; gute anderthalb Meilen vor ihm und somit selbst bei seiner Geschwindigkeit viel zu weit, um Laird noch rechtzeitig zu erreichen. Er beschloß, seine Tarnung zumindest zum Teil aufzugeben und somit das Risiko einzugehen, von Laird oder einem ihrer Begleiter entdeckt zu werden. Blitzartig wechselte er die Richtung und rannte eine Sanddüne hinauf. Der Gleiter raste noch eine Sekunde weiter in steilem Winkel dem Boden entgegen, machte eine plötzliche Wendung und schoß fast im Sturzflug auf Kyle zu, als seine Besatzung den winkenden Mann auf dem Hügelkamm bemerkte.
Hastig zog sich Kyle in den Schutz der Düne zurück. Für eine Sekunde hatte er Laird gesehen - jedenfalls vermutete er, daß eine der drei Gestalten am Rande der Todeszone Captain Laird sein mußte. Und mit ein wenig Glück war er selbst unentdeckt geblieben.
Kyle blickte an sich herab. Wie sein Körper hatte sich auch sein Chamäleonanzug wenigstens zum Teil regeneriert. Der schwarze, halb synthetische, halb lebendige Stoff hing noch immer in Fetzen, und hier und da waren große, häßlich verkohlte Flecken, die nie wieder heilen würden - aber das flammendrote ›M‹ auf Brust und Rücken der Montur war deutlich zu sehen. Kyle konnte nur hoffen, daß auch der Impulsgeber in der Molekularstruktur des Anzuges noch funktionierte. Wenn der Gleiter herankam und sein Bordcomputer nicht das vereinbarte Signal auffing, dann würde er zu Asche verbrannt werden, noch ehe er Gelegenheit fand, seinen Fehler zu bereuen.
Der Gleiter raste heran, legte sich in eine irrsinnig schnelle Linkskurve und stieß wie ein Raubvogel aus Stahl und Glas auf Kyle herab. Die Abstrahlkristalle der beiden schweren Bordlaser begannen in einem drohenden Rot zu leuchten - und erloschen.
Kyle atmete erleichtert auf, als der Gleiter sekundenlang völlig reglos über ihm schwebte. Schattenhaft konnte er die Bewegung der beiden Dienerkreaturen hinter den Sichtscheiben erkennen. Entweder funktionierte der Sender in seinem Anzug noch, oder die beiden Geschöpfe hatten das rote ›M‹ auf seinem Anzug gesehen und waren jetzt unschlüssig, was sie tun sollten.
Kyles Hand tastete nach einem Schalter auf den verkohlten Resten seines Gürtels und drückte ihn. In dem winzigen Empfänger in seinem rechten Ohr knackte es hörbar. Der Sender arbeitete noch.
Aber die erhoffte Reaktion blieb aus. Vielleicht empfing die Besatzung des Gleiters seinen Ruf gar nicht, oder er war nicht mehr in der Lage, ihre Antwort zu empfangen.
Kyle verschwendete keine Zeit damit, diesen Umstand zu bedauern. Statt dessen hob er abermals die Arme und gab der Besatzung des Gleiters in der Zeichensprache zu verstehen, daß alles in Ordnung war. Der Gleiter schwebte eine weitere Sekunde reglos über ihm, gewann dann wieder rasch an Höhe und flog zurück.
Kyle rannte weiter. Er hatte nur Sekunden gewonnen. Die Besatzung des Gleiters würde so auf den Anblick Lairds reagieren, wie ihre Befehle lauteten - und durch den Ausfall des Senders hatte er keine Möglichkeit, ihr andere Befehle zu erteilen. Kyle stürmte zwischen den Dünen entlang und rannte einen weiteren Hügel hinauf.
Er war noch eine knappe Dreiviertelmeile von Laird und den beiden anderen entfernt, als der Gleiter landete. Keine Chance mehr, rechtzeitig dort zu sein, um ihr auch nur eine Warnung zuzurufen.
Aber es gab etwas anderes, was er tun konnte.
Der Anprall des Insektenkriegers schleuderte sie beide aus dem Gleiter. Charity fühlte sich von den Füßen gerissen und hilflos durch die Luft gewirbelt, dann überschlugen sich Himmel und Erde vor ihren Augen, und sie prallte auf.
Es war pures Glück, daß ihr nicht schon der Sturz sämtliche Knochen im Leib brach - aber der Insektenkrieger wollte sie nun endgültig unschädlich machen. Seine dürren, horngepanzerten Arme schlossen sich mit entsetzlicher Kraft um Charitys Oberkörper und preßten ihr die Luft aus den Lungen. Sie wollte schreien, aber sie konnte es nicht. Ein rasender Schmerz brachte sie fast um den Verstand. Sie spürte, wie eine ihrer Rippen unter dem unbarmherzigen Druck nachgab und brach. Rote Schlieren tauchten vor ihren Augen auf, und in ihrem Mund war plötzlich der Geschmack von Blut. Aus den Augenwinkeln registrierte sie immerhin, wie sich Gurk und Lydia gleichzeitig auf den Insektenkrieger warfen und versuchten, ihn von ihr herunterzuzerren oder wenigstens seinen Griff zu lockern. Aber das Monster verstärkte den mörderischen Druck auf ihre Rippen und ihre Wirbelsäule noch.
Der Tod, auf den sie wartete, kam nicht. Plötzlich schien die ganze Welt in einem grausam hellen, weißen Licht aufzuflammen, als ein Energiestrahl ihr Gesicht um Zentimeter verfehlte und sich mit tödlicher Präzision in den Schädel des Moroni bohrte. Das Wesen starb ohne einen Laut. Der entsetzliche Würgegriff seiner vier Arme lockerte sich, und mit einemmal war es nur noch ein schlaffes, totes Gewicht, das Charity niederdrückte.
Trotzdem waren Lydias und Gurks vereinte Kräfte nötig, um das tote Rieseninsekt von ihr herunterzuzerren.
Charity rang verzweifelt nach Luft. Ihre Lungen brannten, als versuche sie Säure einzuatmen, und ihre gebrochene Rippe sandte Wellen unerträglichen Schmerzes in ihren Körper. Für wenige Augenblicke verlor sie das Bewußtsein.
Skudder und Kent knieten neben ihr, als sich die roten Schleier vor ihren Augen wieder lichteten. Irgendwo erscholl ein schrilles, wütendes Kreischen, und genau in dem Moment, in dem Charity die Augen aufschlug, hob Skudder Barts Strahlengewehr und gab einen weiteren Schuß auf ein Ziel im Inneren der Flugscheibe ab. Eine dumpfe Explosion erscholl. Flammen und schwarzer Rauch drangen aus der offenstehenden Schleuse des Gleiters.
»Schnell!« rief Lydia. »Das Ding hat eine Notautomatik! Es startet, sobald es angegriffen wird!«
Skudder und Kent spurteten gemeinsam los, während Charity vergeblich versuchte, auf die Füße zu kommen. Alles drehte sich um sie. Sie versuchte einen Schritt zu machen, fiel auf die Knie herab und griff dankbar nach Lydias Hand. Ihr Mund war noch immer voller Blut, und die Schmerzen in ihren Rippen wurden noch heftiger. Mehr von Net, Lydia und Gurk getragen als aus eigener Kraft, erreichte sie die Schleuse des Fluggleiters und sank stöhnend gegen die Wand.
Der Boden unter ihren Füßen begann zu zittern. Ein dumpfes, immer mächtiger werdendes Grollen erklang, und fast im gleichen Moment begann sich das äußere Schleusentor zu schließen; nicht besonders schnell, aber unerbittlich. Eine Sekunde später begann sich auch die innere Schleusentür zu bewegen.
Net und Lydia zerrten Charity weiter, und diesmal schafften sie es wirklich nur um Haaresbreite: die Schleusentür sauste wie ein stählernes Schafott an ihrem Rücken vorbei und rastete ein. Charity taumelte einen Schritt nach vorne, ließ Nets Hand los und wäre beinahe über einen dritten toten Insektenkrieger gestolpert.
»Alles okay mit dir?« fragte Net.
»Ja«, antwortete Charity und schüttelte den Kopf. Sie bekam kaum Luft. Etwas, das sich wie ein Glassplitter anfühlte, steckte in ihren Lungen und machte jeden Atemzug zu einer Qual. Trotzdem ignorierte sie Nets hilfreich ausgestreckte Hand und wankte mit zusammengebissenen Zähnen weiter.
Der Raum, in dem sie sich befanden, war angesichts der Größe der Flugscheibe überraschend klein. Durch die beiden dreieckigen Sichtscheiben im Bug erkannte Charity, daß die Scheibe entgegen Lydias Befürchtungen noch nicht gestartet war - aber das dumpfe Dröhnen unter ihren Füßen wurde immer durchdringender. Sie hatten höchstens noch Sekunden. Und für einen winzigen Augenblick glaubte sie zu sehen, wie ...
Aber das war unmöglich. Charity gestattete sich nicht einmal, den Gedanken zu Ende zu denken.