»Bitte, seien Sie leise«, sagte Daniel.
Skudder schenkte ihm einen eisigen Blick, und Charity sagte hastig, aber mit gesenkter Stimme: »Tu, was er sagt. Es ist eine Shai-Zeremonie. Wir müssen warten, bis der Transmitter umgepolt ist.«
»Sie bringen ... die Kinder weg?« fragte Net. Sie deutete auf die Priesterinnen, die sich dem Podest weiter genähert hatten. »Damit? Ist das einer von diesen ... Sendern, von denen du gesprochen hast?«
Charity nickte wortlos.
»Also das war es, was sie mit Lydias Kind vorhatten«, sagte Net. »Ich kann sie beinahe verstehen.«
»Ich kann sie verstehen«, sagte Charity leise.
Net sah sie mit einer Mischung aus Verwirrung und Zorn an, antwortete aber nicht mehr, und auch Charity schwieg und konzentrierte sich ganz auf das, was in der Halle geschah.
Der Zug der Priesterinnen hatte sich der Plattform bis auf hundert Schritte genähert und war stehengeblieben. Nur eine der hochgewachsenen, golden gekleideten Gestalten ging weiter - die einzige, wie Charity erst jetzt erkannte -, die kein Kind auf den Armen trug. Mit langsamen, gemessenen Schritten näherte sie sich der Plattform, blieb am Fuße der Treppe stehen und verharrte ein paar Momente. Dann ging sie weiter, stieg die breiten Eisenstufen empor und näherte sich dem Transmitter. Langsam, mit bedächtigen Bewegungen hob sie den goldenen Stab und schob ihn in eines der zahllosen Löcher des silbernen Ringes. Ein hartes, metallisches Geräusch erklang.
Die Priesterin trat zurück, und im gleichen Moment hörte die Luft im Inneren des Metallringes auf zu flimmern. Dann erschienen Farben wie aus dem Nichts, zuckende Blitze und weiche, wolkenartige Formen, die so rasch wieder vergingen, wie sie entstanden - und plötzlich war der Ring nicht mehr länger leer, sondern von wabernder Schwärze erfüllt, ein Nichts, das kein Nichts war.
Net sog überrascht die Luft ein, und auch Skudder fuhr ein wenig zusammen.
Nur Gurk zeigte nicht die allerkleinste Reaktion.
»Was ... was ist das?« flüsterte Net.
Charity antwortete nicht, aber Daniel sagte leise: »Eine andere Welt, mein Kind. Eine von zahllosen Welten, die Ihnen offensteht, wenn Sie Vernunft annehmen.«
Und im gleichen Moment explodierte ein Teil der Wand, vor der sie standen.
Charity hörte ein schrilles, unglaublich hohes Pfeifen, und plötzlich zerriß eine weißblaue Stichflamme die Tür, durch die sie selbst vor Minuten hereingekommen war.
Die Druckwelle riß sie von den Füßen. Charity stürzte, riß instinktiv die Arme über den Kopf und rollte sich zu einem Ball zusammen, als glühende Trümmerstücke und Flammen auf sie herabregneten.
Die Wand, vor der sie gestanden hatte, war hinter einem Vorhang aus Flammen und greller Weißglut verschwunden. Und plötzlich taumelte ein brennender Insektenkrieger aus der Feuerwand, lodernd wie eine Fackel.
Und dann ...
Charity vergaß das Bild nie wieder in ihrem Leben.
Es war ein Mann, aber es war auch ein Dämon, ein schreiendes, taumelndes Etwas, das gegen jede Logik noch immer lebte und sich bewegte und grellweiße, tödliche Lichtblitze aus seinen Händen schleuderte. Ein Teil seiner Kleider und sein Haar brannten lichterloh, und wo seine Haut sein sollte, war nur noch rotes Fleisch, an dem zischende Flammen leckten.
Einer der Insektenkrieger schoß auf ihn. Charity sah ganz genau, wie der Strahl seine linke Schulter traf und durchbohrte, aber die Gestalt taumelte nicht einmal, sondern fuhr mit einer unvorstellbar schnellen Bewegung herum und tötete den Moroni mit einem Laserschuß.
Und dann verwandelte sich der Saal in eine Hölle aus zuckenden Lichtblitzen. Unter den Shai-Priesterinnen brach eine Panik aus. Daniel begann Befehle zu brüllen, und ein halbes Dutzend seiner Insektenkrieger riß gleichzeitig seine Waffen hoch und feuerte auf den Angreifer. Gleichzeitig lösten sich auch die Wachen vor der Transmitterplattform von ihrem Platz und stürmten heran.
Charity stemmte sich mühsam auf Hände und Knie hoch, kroch ein Stück zur Seite und stand vollends auf. Rechts und links von ihr zuckten Laserblitze durch die Luft, und einer der dünnen weißen Strahlen traf nicht einmal eine Handbreit neben ihr den Boden und ließ das Eisen kirschrot aufglühen, aber sie rührte sich nicht. Wie gelähmt stand sie da und starrte die brüllende Gestalt an, die aus der Flammenwand herausgetreten war. Ihre Kleider waren nicht vollkommen verbrannt - auf dem zerfetzten Rest der schwarzen Jacke konnte sie deutlich die Umrisse eines stilisierten, feuerroten ›M‹s erkennen.
Es war der Megamann.
Sie war sicher, ihn mit dem Gammastrahler getroffen zu haben, einer Waffe, deren Energieabgabe hoch genug war, einen Panzer zum Schmelzen zu bringen. Sie hatte gesehen, wie das Motorrad explodierte und das, was von seinem Körper übrig war, in Fetzen riß - aber er stand vor ihr, und er lebte!
Es ist unmöglich, dachte sie, vollkommen unmöglich und unvorstellbar, denn dieser einzelne, tödlich verwundete Mann stand mehr als einem Dutzend von Daniels Insektenkriegern gegenüber, aber er war es, der die Moroni vor sich hertrieb, nicht umgekehrt! Dutzende von Laserstrahlen zuckten in seine Richtung, und er wurde immer und immer wieder getroffen, aber er stürmte weiter und feuerte ununterbrochen zurück, und fast jeder seiner Schüsse traf.
Charity hätte fast zu spät begriffen, daß dieses unvorstellbare Wesen direkt auf sie zustürmte.
Skudder riß sie mit einem so heftigen Ruck herum, daß sie vor Schmerz aufschrie. Instinktiv wollte sie sich losreißen, aber Skudder schlug ihre Hand einfach zur Seite und zerrte sie mit sich, fort von dem tobenden, brennenden Ungeheuer. Blindlings stürmten sie los, bis Skudder plötzlich eine scharfe Wendung machte und die gleiche Richtung wie die fliehenden Priesterinnen einschlug.
»Nein!« brüllte Gurk. »Nicht dorthin! Folgt mir!«
Der Zwerg schlug einen Haken, um einem Laserschuß auszuweichen, den ein übereifriger Insektenkrieger auf ihn abgab - und rannte mit weit ausgreifenden Schritten direkt auf die Transmitterplattform zu!
Charity sah sich im Laufen um, während sie sich dem stählernen Rund näherten. Der Megamann war ein wenig zurückgefallen, und wie immer er das Kunststück fertigbrachte, die Hölle aus Energie und Hitze zu überstehen, mit der ihn die Ameisen überschütteten, es schien ihm zunehmend schwerer zu fallen, seine Bewegungen waren nicht mehr ganz so fließend und schnell wie noch vor Augenblicken. Aber das hieß nicht, daß er langsam war. Wahrscheinlich hätte er sie eingeholt, hätten sich nicht in diesem Moment gleich drei Moroni-Krieger auf ihn gestürzt.
Die Insekten schienen endgültig begriffen zu haben, daß ihre Waffen ihrem Gegner nichts anhaben konnten, denn sie versuchten nicht einmal mehr, auf ihn zu schießen, sondern griffen ihn mit ihren Krallen an.
Der Megamann tötete sie alle drei. Mit bloßen Händen.
Doch so schnell er auch war - der Kampf kostete Zeit, und es waren genau die wenigen Sekunden, die Charity und Skudder brauchten, um den Transmitter zu erreichen.
Skudder blieb stehen und ließ endlich ihren Arm los. Hilflos sah er sich um. Er schien erst jetzt wirklich zu begreifen, was er getan hatte. Sie befanden sich genau im Zentrum der riesigen Halle, und rings um sie herum war nichts mehr, wohin sie hätten fliehen können. Mit einer Mischung aus Verzweiflung und Zorn starrte er auf Gurk herab.
»Und jetzt, Zwerg?« fragte er schweratmend. »Hast du vielleicht noch ein kleines Wunder parat?«
»Du stehst davor«, antwortete Gurk. Er deutete auf den Transmitter. »Spring.«
»Dort hinein?!« Nets Stimme war schrill vor Entsetzen. »Das ist nicht dein Ernst!«
Aber es war Gurks Ernst. Und er verschwendete keine Sekunde mehr darauf, das zu sagen, sondern packte Net überraschend und mit unerwarteter Kraft am Arm - und zerrte sie mit sich in den Transmitter. Für den Bruchteil einer Sekunde schienen ihre Gestalten schwerelos im Nichts zu hängen, dann begannen sie zu verblassen, wurden transparent - und waren einfach verschwunden. Im Inneren des Transmitterkreises war wieder nichts mehr als brodelnde körperlose Schwärze.