»Okay«, drang Kents Stimme in ihre Gedanken. »Dann noch einmal, und der Reihe nach.«
El Gurk richtete sich auf, so weit dies einem Mann von anderthalb Metern Körpergröße überhaupt möglich war.
»Wir sind ...«
»Eines nach dem anderen«, unterbrach ihn Kent, lächelnd, aber in sehr scharfem Tonfall. »Du bekommst schon noch Gelegenheit zu reden.« Er sah den Zwerg eine Sekunde lang kopfschüttelnd an, dann drehte er sich umständlich auf seinem Sitzplatz herum und betrachtete die Frau, die sich auf der Liege zusammengekauert und ihr Baby gegen die Brust gedrückt hatte.
»Fangen wir mit dir an«, sagte er. »Wer bist du, und was suchst du hier?«
»Lydia«, antwortete die Frau. »Mein Name ist ... Lydia.« Ihre Stimme klang sehr leise. Sie sah zwar in Kents Richtung, als sie antwortete, blickte ihn aber nicht direkt an. Und sie scheint noch immer halb verrückt vor Angst zu sein, dachte Charity verwirrt. Aber warum? Sie mußte doch annehmen, in Sicherheit zu sein.
»Ist das dein Kind?« fragte Kent.
Lydia nickte. »Mein Sohn, ja. Ich habe noch zwei Kinder, aber sie ... sie...« Sie begann zu stammeln. Ein schriller Unterton mischte sich in ihre Stimme. Auch Kent schien die Anzeichen einer beginnenden Hysterie deutlich zu erkennen, denn er unterbrach sie hastig und machte eine beruhigende Geste.
»Die Ameisen«, sagte er. »Was wollten sie von dir? Wieso waren sie hinter dir her?«
»Sie haben mich verfolgt«, antwortete Lydia. »Sie ... sie wollten mir mein Kind wegnehmen. Sie haben mir alle meine Kinder weggenommen, zuerst die beiden Mädchen und dann ... dann meinen Sohn. Aber sie dürfen es nicht.« Ihre Stimme wurde wieder schrill. Sie setzte sich auf, zog die Knie an den Leib und preßte den Säugling schützend gegen ihre Brust. »Sie dürfen ihn mir nicht auch noch wegnehmen. Niemand darf das! Ich lasse nicht zu, daß ihn jemand anrührt.«
»Das will auch niemand«, sagte Kent beruhigend. »Du hast ihn gestohlen, nicht wahr?«
Charity blickte überrascht auf. Gestohlen? Wie meinte er das?
Lydia hielt Kents Blick für zwei, drei Sekunden stand, dann senkte sie den Kopf, preßte das Kind noch fester an sich und nickte beinahe unmerklich.
»Ja«, gestand sie. »Sie haben ihn geholt. Vor zwei Tagen haben sie ihn geholt, zusammen mit den anderen. Ich ... ich habe ihn mir wiedergeholt, aber sie haben mich bemerkt und verfolgt, und ich bin ... bin weggelaufen...« Plötzlich sah sie auf. In ihren Augen blitzte Trotz auf. »Ich war ihnen immer treu!« sagte sie. »Meine Schwester ist Shai-Priesterin, und ... und auch ich habe ihnen mein Leben lang treu gedient. Ich habe nie eine Regel gebrochen und immer ...«
Die Aufwallung von Trotz verging so schnell, wie sie gekommen war, und Charity konnte regelrecht sehen, wie Lydia innerlich zusammenbrach. Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Zwei Kinder haben sie mir weggenommen, aber dieses ...« Sie stockte und begann zu weinen; leise, krampfhaft und schluchzend.
Einen Moment lang blickte Kent Lydia betroffen an, dann wollte er aufstehen, aber Charity schüttelte nur rasch den Kopf, erhob sich von ihrem Platz und ging zu Lydia hinüber. Kent bedankte sich mit einem stummen Blick für ihre Hilfe, während Charity sich neben sie setzte und behutsam den Arm um ihre Schulter legte. Im ersten Moment versteifte sich Lydia unter ihrer Berührung; dann, als sie erkannte, wer es war, der sich neben sie gesetzt hatte, ließ sie sich abrupt gegen sie sinken und vergrub das Gesicht an ihrer Brust.
Charity fühlte sich plötzlich sehr hilflos. Sie hatte wenig Erfahrung darin, eine verzweifelte Mutter zu trösten, aber es schien Lydia schon zu genügen, daß sie da war; vielleicht einfach, weil sie eine Frau war und weil sie ihr das Gefühl gab, nicht ganz allein zu sein.
Unsicher streckte sie die Hand aus, berührte Lydias kurzgeschnittenes Haar und wollte mit der anderen Hand nach dem Baby in ihrem Arm greifen, um es zu streicheln.
Sie tat es nicht, als sie ins Gesicht des Säuglings blickte. Und begriff, warum das Kind so ruhig war.
Seine Haut war weiß und kalt, und seine Züge so schlaff und friedlich, als schliefe es nur. Seine Augen waren weit geöffnet. Aber sie waren starr, und der Sand hatte einen hauchdünnen matten Film wie Rauhreif über seine Pupillen gelegt.
Ein paar Momente lang blickte Charity mit einer Mischung aus Entsetzen und Trauer auf das Kind herab, ehe ihr bewußt wurde, daß Lydia aufgehört hatte zu weinen und sie ansah. Ihre Augen waren groß und fast so starr wie die ihres toten Kindes.
Charity wollte etwas sagen, aber sie konnte es nicht. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Mühsam, mit einer Anstrengung, als koste sie diese kleine Bewegung all ihre Kraft, löste sich Lydia aus ihrer Umarmung, schob sie ein kleines Stückchen von sich fort, griff nach ihrer Hand und führte sie, so daß sie die Augen des Säuglings schließen konnte.
»Es tut mir so leid«, flüsterte sie.
Lydia lächelte traurig. »Sie haben ihn nicht bekommen, nicht wahr?« sagte sie. »Sie haben ihn mir nicht auch noch weggenommen.«
»Nein«, antwortete Charity. »Das haben sie nicht. Und das werden sie auch nicht.«
Sehr vorsichtig stand sie auf, half Lydia, sich auf der Liege auszustrecken und breitete eine der zerschlissenen Decken über ihr und dem Kind aus, die darauf lagen. Dann atmete sie tief und hörbar ein und wandte sich schließlich wieder zu Kent und den anderen um.
Skudder blickte sie erschreckt an, und auch auf den Gesichtern der meisten Rebellen hatte sich ein betroffener Ausdruck breitgemacht; nur Kent wirkte zornig. Aber es war ein Zorn, der Charity schaudern ließ.
Sie ging zu ihrem Platz zurück, ließ sich darauf nieder und barg für einen Moment das Gesicht in den Händen. Sie fühlte sich müde; müde und ausgelaugt und ganz plötzlich ebenfalls zornig, wenngleich es ein ohnmächtiger Zorn war. Sie versuchte vergeblich, ihn auf die drei Reiter zu konzentrieren, die Skudder und sie niedergeschossen hatten. Sie waren nur Werkzeuge gewesen; wenig mehr als Roboter, die nur durch Zufall aus Fleisch und Blut bestanden statt aus Metall und Kunststoff.
Sie wollte etwas sagen, aber Kent winkte rasch ab und gab zwei seiner Männer mit Gesten zu verstehen, Lydia hinauszubringen.
»Wie lange war es schon tot?« fragte Charity, als sie allein waren.
»Schon seit wir sie gefunden haben«, antwortete Kent. »Wahrscheinlich schon lange vorher.« Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war es auch schon tot, als sie es entführt hat. Ist vielleicht besser so. Es wäre sowieso gestorben.« Er seufzte, starrte einen Moment lang an Charity vorbei ins Leere und gab sich dann einen sichtbaren Ruck.
»Aber jetzt zu euch«, fuhr er mit veränderter Stimme fort. »Ihr seid also auf der Suche nach den Rebellen.«
»Nein«, antwortete Charity spöttisch. »Nicht nach Rebellen. Nach El Gurks Freunden.« Sie warf Gurk einen drohenden Blick zu.
»Ich weiß nicht, was er euch erzählt hat«, sagte Kent gelassen. »Ich kenne ihn jedenfalls nicht.«
»Aber ich dich!« sagte Gurk aufgebracht. »Du bist ...«
Kent machte eine fast gelangweilte Handbewegung. Einer seiner Männer packte Gurk kurzerhand im Nacken, hob ihn mit einer Hand hoch und hielt ihm mit der anderen den Mund zu.
»Ihr sucht also die Rebellen«, sagte Kent noch einmal.
Charity nickte. »Ich glaube, wir haben sie gefunden.«
»Möglich. Die Frage ist nur, was wir mit euch machen. Woher sollen wir wissen, daß wir euch trauen können?«
»Nicht schon wieder!« sagte Skudder gereizt. »Verdammt, wie sollen wir euch beweisen, wer wir sind und was wir von euch wollen? Wollt ihr vielleicht eine schriftliche Bestätigung von Daniel, daß wir nicht zu seinen Leuten gehören?«