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Als Kyle an diesem Punkt seiner Überlegungen angekommen war, war sein weiteres Vorgehen klar. Lautlos und ohne daß einer der Menschen dort unten im Tal auch nur etwas von der Anwesenheit des stummen Beobachters ahnte, erhob er sich aus seinem Versteck und ging ohne sichtbare Hast zu der Felsgruppe zurück, hinter der er sein Fahrzeug abgestellt hatte. Es handelte sich um eine der zweirädrigen Maschinen, wie sie auch Laird und die anderen zur Flucht verwendet hatten. Er hatte Daniels Angebot, ihm einen schnellen Jagdgleiter zur Verfügung zu stellen, abgelehnt und statt dessen eines der Motorräder genommen, von denen es im ehemaligen Camp der Sharks genug gab. Eines der Grundprinzipien der Jagd war, dem Opfer auf dem gleichen Weg zu folgen, auf dem es geflohen war. Und das Fahrzeug hatte sich als zwar primitiv, aber in dieser flachen harten Ebene überraschend effektiv erwiesen. Und es hatte ihm eine Menge über Captain Laird und die überlebenden Sharks verraten.

Kyle löste bedächtig den Wasserkanister vom Sattel, schüttete die kostbare Flüssigkeit in den Sand und startete die Harley-Davidson. Er fuhr los und entfernte sich zwei, drei Meilen weit von der verborgenen Siedlung, ehe er in einem weiten Bogen herumschwang und wieder auf südlichen Kurs ging, wobei er streng darauf achtete, das Fahrzeug nur über felsigen Untergrund zu lenken, auf dem die Maschine keine Spuren hinterließ. Seine linke Hand glitt zum Gürtel und berührte eine Taste auf dem kleinen Instrumentenbord, das den Platz einer Schnalle einnahm.

Der Chamäleonanzug färbte sich dunkel. Das hauteng anliegende Material, das vor Augenblicken noch die Farbe des Wüstensandes gehabt hatte, wurde rauh und schien zu pulsieren wie die Haut eines lebenden fiebernden Wesens. Zehn Sekunden, nachdem Kyle die Taste berührt hatte, hatte sich sein Anzug in eine Kombination aus schwarzem, zerschrammtem Leder verwandelt.

Kyle drosselte seine Geschwindigkeit ein wenig, warf einen Blick in den Spiegel des Motorrades und veränderte die Pigmentierung seiner Haut. Aus dem dunklen glatten Teint seines Gesichtes wurde ein kränkliches Braun; Sonnenbräune, unter der sich Erschöpfung und Schwäche breitgemacht hatten. Dunkle, schwere Ringe erschienen unter seinen Augen. Seine Lippen trockneten aus, wurden rissig und vernarbten. Gleichzeitig färbte sich sein Haar heller: aus Schwarz wurde Blond, in das ein schmaler, hellgrüner Streifen eingefärbt war. Kyle musterte diese letzte Änderung einen Moment lang kritisch und nahm sie dann zurück.

Er näherte sich der Ortschaft jetzt schnell. Die vermeintliche Mauer aus trockenem Dornengebüsch wuchs rasch heran, und fast gegen seinen Willen mußte Kyle die Perfektion der Tarnung bewundern. Selbst er hätte Mühe gehabt, die Täuschung als das zu durchschauen, was sie war.

Kyle fuhr langsamer, entdeckte nach kurzem Suchen die Stelle, die er von den Felsen aus als besten Durchlaß ausgemacht hatte, und gab entschlossen Gas.

Der Motor des Fahrzeuges brüllte auf und katapultierte ihn regelrecht nach vorne. Dornen und dürre, trockene Zweige schlugen nach ihm, zerkratzten seine Kleider und hinterließen tiefe, blutige Striemen in seinen Händen und seinem Gesicht. Die Maschine schlingerte, legte sich für einen Moment lang gefährlich schräg und kam taumelnd wieder hoch. Unten im Dorf wurden erschrockene Rufe laut. Gesichter wandten sich ihm zu; ein paar Gestalten begannen zu rennen. Kyle fuhr weiter, jetzt nicht mehr schnell, sondern taumelnd, mühsam, halb im Sattel zusammengesunken und so, als hielte er die Maschine nur noch mit letzter Kraft aufrecht.

Kurz bevor er die erste Hütte erreichte, fügte er seiner Tarnung den letzten, entscheidenden Teil hinzu. Sein Körper kapselte schlagartig sämtliche Wasservorräte ein, die er in den letzten anderthalb Tagen gesammelt hatte. Gleichzeitig erhöhte er seine Hauttemperatur auf annähernd vierzig Grad. Kyle konnte spüren, wie sich sein Gaumen schmerzhaft zusammenzog und der Durst ihn ansprang wie ein Raubtier. Gleichzeitig begann seine Haut zu reißen. Große, häßlich-braune Flecken entstanden auf seinem Gesicht und seinen Händen, und seine Finger waren plötzlich von einer Anzahl kleiner, halbverschorfter Wunden übersät.

Als er vor der ersten Hütte zum Stehen kam, konzentrierte er sich ein letztes Mal, und diesmal brauchte er seine ganze Kraft.

Kyle schrie gellend auf, als sich seine linke Schulter von einer Sekunde auf die andere in eine einzige, entzündete Wunde verwandelte. Den Schwächeanfall, der ihn aus dem Sattel der stürzenden Harley schleuderte und bewußtlos liegen bleiben ließ, mußte er nicht einmal mehr schauspielern.

Charity fror. Das tat sie, seit sie aufgewacht war, aber seit gut zwei Stunden wurde es immer schlimmer. Die Flasche des kleinen Propangasofens war leer, und sie begann eigentlich erst jetzt zu spüren, wie kalt es hier unten wirklich war: kalt genug, ihren Atem in Dampf und ihre Finger und Zehen in schmerzende Eisklumpen zu verwandeln. Dabei war sie ziemlich sicher, daß man sie nicht absichtlich erfrieren lassen wollte. Immerhin wußte Kent, wie kalt es hier, zehn oder zwanzig Meter unter der Wüste, während der Nacht werden konnte, denn ihre kleine Zelle wies sogar den Luxus eines Gasofens auf - aber ihre Bewacher hatten schlichtweg vergessen, nach der Flasche darin zu sehen.

Allerdings machte das wohl keinen so großen Unterschied, dachte Charity zornig. Allerhöchstens eine etwas andere Inschrift auf ihrem Grabstein: Hier ruht Charity Laird, Retterin der Welt und Zeitreisende wider Willen, aus Versehen das zweite Mal leider etwas zu gründlich eingefroren.

Sie versuchte, sich fester in die dünne Decke einzuwickeln, die Kent ihr gegeben hatte, aber ihre Finger waren bereits zu steif geworden. Schade, dachte sie sarkastisch, daß Kent nicht noch einmal hereinkam, um nach ihr zu sehen. Vielleicht könnte sie ihn noch umbringen - einfach schockgefrieren, indem sie ihn nur einmal anhauchte. Oder ...

Charity war in Gedanken bei der siebten oder achten originellen Todesart, die sie Kent und seinen idiotischen Spießgesellen angedeihen lassen wollte, ehe sie überhaupt bemerkte, daß sie nicht mehr allein in der winzigen Zelle war. Jemand stand neben ihrer Liege, rüttelte beharrlich an ihrer Schulter und redete dabei unentwegt auf sie ein, ohne daß sie auch nur ein Wort verstand. Mühsam hob sie den Blick, sah in ein bärtiges Gesicht, auf dem sich ein sehr erschrockener Ausdruck breitgemacht hatte.

Der Mann sah ehrlich besorgt aus. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« fragte er.

Charity rappelte sich mühsam auf und wankte neben ihm zur Tür.

Es dauerte zehn Minuten, bis das Leben allmählich in ihre Glieder zurückzukriechen begann. Der Schmerz trieb Charity die Tränen in die Augen. Tapfer trank sie den kochendheißen Tee, den ihr Retter ihr einzuflößen versuchte.

»Alles wieder okay?« fragte der Bärtige, den sie zuerst erblickt hatte. Charity funkelte ihn wütend an, aber sie sah trotzdem, daß der Ausdruck von Schrecken in seinen Augen echt war.

»Es ... geht«, sagte sie mühsame. Das Sprechen fiel ihr noch immer schwer. Ihre Lippen waren taub. »Wolltet ihr mich umbringen?«

»Ich ... ich verstehe das nicht«, sagte der Bärtige kleinlaut. »Die Flasche war voll. Jedenfalls dachte ich das.« Er schüttelte den Kopf. »Sie hätte für drei Tage reichen müssen!«

Charity starrte ihn an. Drei Tage? Wenn sie die Flamme ganz heruntergedreht und es sich bei sieben oder acht Grad Celsius bequem gemacht hätte, vielleicht, aber nicht, wenn ...