Margaret Weis
Tracy Hickman
Die Königin der Finsternis
Fußstapfen im Sand...
Die Armee des Fistandantilus drang weiter südlich vor und erreichte Kargod gerade, als die letzten Blätter von den Bäumen geweht wurden und der Winter seine eisige Hand mit festem Griff über das Land legte.
Die Gestade des Neumeers hielten die Armee auf. Aber Caramon, der wußte, daß er das Meer überqueren mußte, hatte schon lange Zeit vorher entsprechende Maßnahmen getroffen. Er übertrug seinem Bruder und seinen treuesten Untergebenen das Kommando und führte eine Gruppe der am besten ausgebildeten Männer zu den Ufern des Neumeers. Darüber hinaus wurde er von allen Schmieden, Schreinern und Zimmerleuten begleitet, die zur Armee gehörten.
Caramon errichtete seinen Befehlsstand in der Stadt Kargod. Er hatte sein ganzes Leben von dieser berühmten Hafenstadt gehört – in seinem anderen Leben. Dreihundert Jahre nach der Umwälzung sollte aus ihr eine geschäftige, blühende Hafenstadt werden. Aber jetzt, hundert Jahre, nachdem das feurige Gebirge auf Krynn gestürzt war, befand sich Kargod in einem völlig chaotischen Zustand. Einst eine kleine, bäuerliche Gemeinde inmitten der Solamnischen Ebene, kämpfte Kargod noch immer mit der Situation, plötzlich ein Meer vor der Haustür zu haben.
Als Caramon von seinem Quartier herabschaute, wo die Straßen der Stadt unmittelbar an gefährlich steilen Abhängen endeten, die zu den Stränden führten, dachte er widersinnigerweise an Tarsis. Die Umwälzung hatte diese Stadt ihres Meeres beraubt, ihre Schiffe im Sand stranden lassen wie sterbende Seevögel, während hier in Kargod das zuvor gepflügte Land vom Neumeer überschwemmt worden war.
Caramon dachte mit Sehnsucht an diese gestrandeten Schiffe in Tarsis. In Kargod gab es zwar einige Schiffe, aber sie reichten für seine Bedürfnisse bei weitem nicht aus. Er schickte seine Männer mit dem Befehl fort, die Küste abzusuchen und entweder Schiffe egal welchen Typs zu kaufen oder zu beschlagnahmen, gegebenenfalls einschließlich der Mannschaft. Diese Schiffe wurden nach Kargod gebracht, wo sie von den Handwerkern umgebaut wurden, um so viel Ladung wie möglich für die kurze Überfahrt über die Straße von Schallmeer nach Abanasinia transportieren zu können.
Täglich erhielt Caramon Berichte über das Anwachsen der Zwergenarmee – wie Pax Tarkas befestigt wurde, wie die Zwerge Sklaven (Gossenzwerge) importierten, die Tag und Nacht in den Minen und Stahlschmieden arbeiteten und Waffen und Rüstungen herstellten, wie diese nach Thorbadin und ins Berginnere befördert wurden.
Ebenfalls erhielt er Berichte von den Abgesandten der Hügelzwerge und der Menschen der Ebenen.
Er erfuhr von den großen Versammlungen der Stämme in Abanasinia, bei denen Blutfehden beigelegt wurden, um gemeinsam für das Überleben aller zu kämpfen. Er erfuhr von den Vorbereitungen der Hügelzwerge, die auch Waffen schmiedeten und die gleichen Gossenzwergsklaven wie ihre Verwandten, die Bergzwerge, einsetzten.
Er hatte sogar den Elfen in Qualinesti diskrete Vorschläge gemacht. Dies gab ihm ein unheimliches Gefühl, denn der Mann, dem er seine Botschaft übersandte, war kein anderer als Solostaran, die Stimme der Sonne, der erst einige Wochen zuvor in Caramons eigener Zeit gestorben war. Raistlin hatte höhnische Bemerkungen gemacht, als er von dem Versuch erfuhr, die Elfen in den Krieg hineinzuziehen, da ihm ihre Antwort nur zu bekannt war. Jedoch war der Erzmagier nicht ohne geheime Hoffnungen, die er in den dunklen Stunden der Nacht nährte, daß es dieses Mal anders sein könnte.
Es war nicht anders.
Caramons Männer erhielten nicht einmal die Gelegenheit, mit Solostaran zu sprechen. Bevor sie von ihren Pferden absteigen konnten, zischten Pfeile durch die Luft, schlugen dumpf in den Boden und bildeten einen tödlichen Kreis um jeden einzelnen. Bei einem forschenden Blick in den Espenwald konnten sie Hunderte von Bogenschützen ausmachen, von denen jeder einen Pfeil auf der Kerbe liegen hatte. Es wurden keine Worte ausgetauscht. Die Boten verließen den Wald und nahmen einen Elfenbogen als Antwort für Caramon mit.
Der Krieg selbst gab Caramon ein unheimliches Gefühl. Als er die Diskussionen zwischen Raistlin und Crysania anhörte, kam es ihm plötzlich in den Sinn, daß alles, was er tat, auch schon zuvor getan worden war. Dieser Gedanke war für ihn fast genauso alptraumhaft wie für seinen Bruder, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen.
»Es kommt mir vor, als ob dieser Eisenring, den ich in Istar um meinem Hals getragen habe, wieder befestigt worden wäre«, brummte Caramon eines Abends, als er in dem Wirtshaus in Kargod saß, das er als Befehlszentrale übernommen hatte. »Ich bin so wie damals wieder ein Sklave. Nur ist es dieses Mal schlimmer, denn damals in Istar hatte ich als Sklave zumindest jeden Tag die Freiheit, mich zu entscheiden, ob ich noch einen Atemzug holen wollte oder nicht. Ich meine, wenn ich hätte sterben wollen, hätte ich mich in mein Schwert stürzen und sterben können! Aber jetzt verfüge ich anscheinend nicht einmal mehr über diese Entscheidungsfreiheit.«
Für Caramon war dies eine seltsame und beängstigende Vorstellung, über die er viele Nächte grübelte und von der er wußte, daß er sie nicht verstand. Er hätte gern mit seinem Bruder darüber geredet, aber Raistlin befand sich im Landesinneren bei der Armee, und selbst wenn sie zusammen gewesen wären, hätte sich sein Bruder, davon war Caramon überzeugt, geweigert, darüber zu sprechen.
Raistlin hatte mittlerweile fast täglich an Kraft gewonnen. Nach seinem Zauber, bei dem das ausgestorbene Dorf in einem tosenden Scheiterhaufen ausgelöscht worden war, hatte der Erzmagier zwei Tage lang fast tot dagelegen. Als er aus seinem fiebrigen Schlaf erwacht war, hatte er großen Hunger verspürt. Innerhalb der nächsten Tage nahm er mehr feste Nahrung zu sich, als er in den vorangegangenen Monaten zu vertragen in der Lage gewesen war. Der Husten hörte auf. Er genas schnell und nahm an Gewicht zu.
Aber immer noch wurde er von Alpträumen geplagt, die er nicht einmal mit den stärksten Schlafmitteln bannen konnte.
Tag und Nacht grübelte Raistlin über sein Problem. Wenn er Fistandantilus’ tödlichen Fehler hätte erfahren können, wäre er in der Lage gewesen, ihn zu vermeiden.
Verrückte Pläne kamen ihm in den Sinn. Der Erzmagier spielte sogar mit dem Gedanken, zu Forschungszwecken in seine eigene Zeit zu reisen, ließ aber die Idee fast unverzüglich wieder fallen. Wenn er schon zwei Tage in einen Erschöpfungszustand fiel, nur um ein Dorf in Flammen aufgehen zu lassen, dann würde der Zeitreisezauber wohl noch stärker an seinen Kräften zehren. Und falls er es schließlich zurückschaffen würde, hätte er nicht mehr die erforderliche Kraft, um die Dunkle Königin zu bekämpfen.
Aber dann, gerade als er in seiner Verzweiflung aufgeben wollte, kam ihm die Antwort...
1
Raistlin hob den Zeltvorhang und ging hinaus. Die Wache zuckte zusammen und scharrte verlegen mit den Füßen. Das Erscheinen des Erzmagiers war stets zermürbend, selbst für seine persönliche Wache. Niemand hörte jemals sein Kommen. Er schien sich immer aus der Luft zu materialisieren. Der erste Hinweis auf seine Gegenwart war die Berührung seiner glühenden Finger auf einem nackten Arm, sanft geflüsterte Worte oder das Rascheln seiner schwarzen Roben.
Das Zelt des Zauberers wurde mit Staunen und Ehrfurcht betrachtet, auch wenn niemand etwas Seltsames bemerkte. Natürlich beobachteten es viele, insbesondere die Kinder, die insgeheim hofften, ein entsetzliches Monster sich der Kontrolle des Erzmagiers entziehen zu sehen, das durch das Lager donnerte und jeden, den es erblickte, verschlang, bis sie es mit einem Stück Pfefferkuchen zähmten. Aber nichts dergleichen trat ein. Der Erzmagier pflegte und erhielt sorgfältig seine Energien. Doch das würde sich heute abend ändern, sinnierte Raistlin. Es blieb ihm keine andere Wahl. »Wache«, murmelte er.
»Herr?« rief der Wächter verwirrt. Der Erzmagier sprach selten jemanden an, geschweige denn eine einfache Wache.