»Hör mir zu«, sagte Caramon grimmig. »Deine Gewissensprüfung kannst du später ablegen. Gerade jetzt brauche ich deine Hilfe!«
»Ja, natürlich.« Der entschlossene, selbstbewußte Ausdruck kehrte in Crysanias Gesicht zurück. Ohne zu zögern, folgte sie Caramon in Raistlins Zelt.
Sich der Wache und anderer neugieriger Augen bewußt, schloß Caramon schnell den Zeltvorhang hinter sich. Im Inneren war es dunkel und still, so dunkel, daß beide anfangs im Schatten nichts erkennen konnten. Sie blieben am Eingang stehen und warteten darauf, daß sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnten, als Crysania sich plötzlich an Caramon klammerte. »Ich kann ihn atmen hören!« sagte sie erleichtert.
Caramon nickte und bewegte sich langsam vorwärts. Der hell werdende Tag vertrieb die Nacht aus dem Zelt, und mit jedem weiteren Schritt konnte er deutlicher sehen.
»Dort«, sagte er. Er stieß eilig einen Schemel beiseite, der in seinem Weg stand. »Raist!« rief er leise, als er sich hinkniete. Der Erzmagier lag auf dem Boden. Sein Gesicht war aschgrau, seine dünnen Lippen blau. Sein Atem ging flach und unregelmäßig, aber er atmete. Caramon hob seinen Bruder vorsichtig auf und trug ihn zu seinem Bett. Im schwachen Licht konnte er ein leichtes Lächeln auf Raistlins Lippen sehen, als wäre er in einem angenehmen Traum verloren.
»Ich glaube, jetzt schläft er nur noch«, sagte Caramon verwirrt zu Crysania, die über Raistlin eine Decke zog. »Aber irgend etwas ist geschehen. Das steht fest.« Er sah sich bei dem heller werdenden Licht im Zelt um. »Ich frage mich... Im Namen der Götter!«
Crysania sah über ihre Schulter zu ihm.
Die Zeltstangen waren versengt und geschwärzt, der Stoff selbst angekohlt. Es sah aus, als ob ein Feuer vorbeigefegt wäre, doch unverständlicherweise war das Zelt stehengeblieben und kaum beschädigt. Jedoch war es ein Gegenstand auf dem Tisch, der Caramon zu diesem Ausruf veranlaßt hatte.
»Die Kugel der Drachen!« flüsterte er eingeschüchtert.
Vor Urzeiten von den Magiern aller drei Roben hergestellt, versehen mit der Essenz der guten, bösen und neutralen Drachen, mächtig genug, um die Gestade der Zeit zu überspannen, ruhte die Kristallkugel auf dem silbernen Ständer, den Raistlin für sie angefertigt hatte.
Einst war es ein Gegenstand mit einem magischen, in Trance versetzenden Licht gewesen. Doch jetzt war es ein Gegenstand der Dunkelheit, leblos; ein Sprung lief durch seine Mitte.
»Sie ist zerstört«, sagte Caramon mit leiser Stimme.
4
Die Armee des Fistandantilus überquerte die Straße von Schallmeer in einer baufälligen Flotte, die sich aus Fischerbooten, Segelschiffen, einfachen Flößen und Vergnügungsbooten zusammensetzte. Trotz der geringen Entfernung nahm es eine Woche in Anspruch, die Menschen, die Tiere und die Versorgungsgüter zu transportieren.
Als Caramon zur Überfahrt bereit war, hatte die Armee einen so starken Zuwachs erhalten, daß nicht genügend Boote vorhanden waren, um alle auf einmal auf die andere Seite zu befördern. Viele Schiffe mußten mehrere Male hin und her segeln. Die größten wurden für den Viehtransport eingesetzt. In schwimmende Ställe umgewandelt, gab es Boxen für die Pferde und die mageren Rinder und Pferche für die Schweine.
Obwohl eigentlich alles glatt verlief, bekam Caramon jede Nacht nur ungefähr drei Stunden Schlaf, so beschäftigt war er mit Problemen, von denen alle überzeugt waren, daß nur er sie lösen konnte – von seekranken Rindern bis hin zu einer mit Schwertern beladenen Kiste, die zufälligerweise über Bord fiel und wieder geborgen werden mußte. Als dann das Ende abzusehen war und fast alle das andere Ufer erreicht hatten, kam ein Sturm auf. Das Meerwasser zu Schaum aufpeitschend, brachte der Sturm zwei Boote zum Scheitern, die aus ihren Vertäuungen glitten. Zwei Tage lang war eine Überfahrt nicht möglich.
Aber schließlich schafften es alle in verhältnismäßig guter Verfassung. Es gab nur wenige Fälle von Seekrankheit, ein Kind fiel über Bord und wurde gerettet, ein Pferd brach sich ein Bein, als es in Panik seine Box niedertrat.
Bei der Landung an der Küste von Abanasinia traf die Armee auf den Häuptling der Menschen der Ebenen – die Barbaren, die die nördlichen Ebenen Abanasinias bewohnten, waren begierig, das fabelhafte Gold von Thorbadin zu gewinnen – und auf die Abgesandten der Hügelzwerge. Als Caramon den Vertreter der Hügelzwerge kennenlernte, erlebte er einen tiefen Schock, der ihn tagelang aus der Fassung brachte.
»Regar Feuerschmied und Begleitung«, verkündete Garik vom Zelteingang her. Er machte Platz und ließ eine Gruppe von drei Zwergen eintreten.
Caramon starrte den ersten Zwerg ungläubig an. Raistlins dünne Finger schlossen sich schmerzhaft um seinen Arm.
»Kein Wort!« flüsterte der Erzmagier.
»Aber er... er sieht aus... und der Name!« stammelte Caramon leise.
»Natürlich«, entgegnete Raistlin, als wäre das das Selbstverständlichste auf der Welt, »das ist Flints Großvater.«
Flints Großvater! Flint Feuerschmied – sein alter Freund. Der alte Zwerg, der in der Heimat der Götter in Tanis’ Armen gestorben war, der alte Zwerg, so mürrisch und jähzornig und dennoch so zartfühlend, der Zwerg, der auf Caramon uralt gewirkt hatte. Er war noch nicht einmal geboren! Das war sein Großvater.
Caramon wurde heiß, dann kalt. Flint war noch nicht geboren. Tanis existierte noch nicht, Tika existierte nicht. Er selbst existierte nicht! Nein! Das konnte nicht sein!
Das Zelt kippte vor Caramons Augen um. Er befürchtete, krank zu sein. Glücklicherweise sah Raistlin die Blässe im Gesicht seines Bruders. Indem er erkannte, was das Gehirn seines Bruders zu verarbeiten versuchte, erhob er sich, stellte sich vor seinen verwirrten Bruder und sprach die angemessenen Willkommensworte zu den Zwergen. Aber gleichzeitig warf er Caramon einen dunklen, durchdringenden Blick zu, ihn streng an seine Pflicht erinnernd.
Caramon riß sich zusammen und schaffte es, die beunruhigenden und verwirrenden Gedanken beiseite zu schieben und sich einzureden, daß er sich später in Ruhe damit auseinandersetzen würde. Das hatte er sich in letzter Zeit häufig vorgenommen. Unglücklicherweise schien niemals eine ruhige Zeit zu kommen...
Caramon stand auf. Es gelang ihm sogar, die Hand des untersetzten, graubärtigen Zwergs gelassen zu schütteln.
»Ich habe es nie für möglich gehalten«, erklärte Regar frei heraus, als er sich auf einen angebotenen Stuhl setzte und einen Krug Bier annahm, den er in einem Zug hinunterstürzte, »daß ich mich auf Verhandlungen mit Menschen und Zauberern einlasse, insbesondere, wenn es gegen mein eigen Fleisch und Blut geht.« Er warf einen finsteren Blick in den leeren Krug.
Caramon bedeutete dem Diener mit einer Geste, den Krug nachzufüllen.
Regar behielt seinen finsteren Blick bei, bis sich der Schaum gesetzt hatte. Dann hob er ihn seufzend zu Caramon, der zu seinem Stuhl zurückgekehrt war. »Seltsame Zeiten bringen seltsame Brüder zustande.«
»Das kannst du wohl laut sagen«, murmelte Caramon mit einem kurzen Blick zu Raistlin. Er hob sein Glas mit Wasser und trank es. Raistlin befeuchtete aus Höflichkeit seine Lippen an einem Glas Wein, dann stellte er es ab.
»Wir werden uns morgen früh treffen, um unsere Pläne zu erörtern«, sagte Caramon. »Der Häuptling der Barbaren wird dann auch dabei sein.« Regars finsterer Blick vertiefte sich, und Caramon seufzte innerlich auf; er sah Ärger voraus. Aber er fuhr in herzlichem Ton fort: »Heute abend werden wir gemeinsam speisen, um unser Bündnis zu besiegeln.«
Daraufhin erhob sich Regar. »Ich werde wohl mit den Barbaren kämpfen müssen«, knurrte er. »Aber beim Barte Reorx’, ich werde nicht mit ihnen speisen – und auch nicht mit dir!«
Caramon stand wieder auf. In seine zeremonielle Rüstung gekleidet, bot er einen eindrucksvollen Anblick.
Der Zwerg spähte zu dem Krieger hoch. »Du bist ganz schön groß, nicht wahr?« bemerkte er. Schnaufend schüttelte er den Kopf. »Aber ich glaube eher, daß du mehr Muskeln als Grips im Kopf hast.«