Unter diesen Jubelnden befand sich Dunkan, König der Bergzwerge. Auf den Zinnen der gigantischen Festung Pax Tarkas stehend, umgeben von seinen Generälen, hörte Dunkan die tiefen, heiseren Stimmen seiner Männer um sich herum anschwellen, und er lächelte zufrieden. Heute würde ein glorreicher Tag sein.
Nur ein Zwerg jubelte nicht. Dunkan brauchte ihn nicht einmal anzusehen, um sich des Schweigens bewußt zu sein, das in seinem Herzen so laut aufdonnerte wie die Jubelschreie in seinen Ohren.
Abseits von den anderen stand Kharas, der Held der Zwerge. Hochgewachsen, prächtig in seiner glänzenden Rüstung, seinen riesigen Hammer in seinen großen Händen haltend, stand er da und starrte den Sonnenaufgang an, und wenn ihn jemand angesehen hätte, hätte er die Tränen bemerkt, die über sein Gesicht liefen.
Aber niemand sah ihn an. Jeder wich Kharas sorgsam aus. Nicht weil er weinte, obgleich Zwerge Tränen als eine kindliche Schwäche empfinden.
Nein, der Grund war nicht Kharas’ Weinen. Der Grund war, daß seine Tränen ungehindert über ein nacktes Gesicht tröpfelten.
Kharas hatte seinen Bart abrasiert.
Selbst als Dunkans Augen über die Ebene von Pax Tarkas glitten, selbst als sein Geist die Aufstellung des Feindes aufnahm, der sich über die öden Ebenen ausbreitete, konnte der Lehnsherr den grenzenlosen Schock immer noch spüren, der seine Seele an jenem Morgen überwältigt hatte, als er Kharas sah, der seinen Platz auf den Zinnen einnahm – bartlos. In seinen Händen hatte der Zwerg die langen Locken seines prächtigen Bartes gehalten, und entsetzt hatten sie beobachtet, wie Kharas ihn über die Zinnen schleuderte.
Ein Bart ist das Vorrecht eines jeden Zwergs, sein Stolz, der Stolz seiner Familie. Im Todesfall wird ein Zwerg durch die Trauerzeit gehen, ohne seinen Bart zu kämmen, aber nur aus einem Grund würde ein Zwerg ihn abrasieren, und das ist Schamgefühl. Es ist das Zeichen der Schande – die Strafe für Mord, die Strafe für Diebstahl, die Strafe für Feigheit, die Strafe für Fahnenflucht.
Warum? war alles, was der betäubte Dunkan denken konnte.
Über das Gebirge starrend, antwortete Kharas mit einer Stimme, die wie Gestein splitterte: »Ich kämpfe in dieser Schlacht, weil du mir zu kämpfen befohlen hast, Lehnsherr. Ich habe dir meine Treue geschworen, und ich bin durch meine Ehre gebunden, diesen Schwur einzuhalten. Aber alle sollen wissen, daß ich zwar kämpfe, aber keine Ehre darin finde, meine Verwandten zu töten, und auch nicht die Menschen, die mehr als einmal an meiner Seite gekämpft haben. Alle sollen wissen; Kharas geht an diesem Tag voller Scham in die Schlacht.«
»Du wirst für jene, die du anführst, eine hervorragende Figur abgeben!« erwiderte Dunkan verbittert.
Aber Kharas sagte nichts mehr.
»Lehnsherr!« Mehrere Männer schrien es auf einmal und lenkten Dunkans Aufmerksamkeit wieder zur Ebene zurück. Aber auch er hatte vier Gestalten gesehen, aus dieser Entfernung, winzig wie Spielzeugpuppen, die sich von der Armee gelöst hatten und auf Pax Tarkas zuritten. Drei der Gestalten trugen flatternde Fahnen. Der vierte hielt nur einen Stab, von dem ein klares, helles Licht ausging, das selbst aus der Ferne von dem zunehmenden Tageslicht unterschieden werden konnte.
Zwei der Fahnen kannte Dunkan natürlich. Das Banner der Hügelzwerge mit ihrem allzu vertrauten Symbol von Amboß und Hammer, das sich in anderen Farben auf Dunkans eigenem Banner wiederholte. Das Banner der Barbaren hatte er niemals zuvor gesehen, aber er erkannte es sofort. Es paßte zu ihnen – das Symbol des Windes, der über Präriegras fegte. Das dritte Banner gehörte vermutlich diesem Emporkömmling, diesem General, der aus dem Nichts hervorgeritten war.
»Pah!« schnaufte Dunkan und beäugte verächtlich das Banner mit dem neunzackigen Stern. »Nach dem, was wir gehört haben, sollte er ein Banner mit dem Zeichen der Gaunergilde zusammen mit einer muhenden Kuh tragen!«
Die Generäle lachten.
»Oder verwelkte Rosen«, schlug einer vor. »Ich habe gehört, viele abtrünnige Ritter von Solamnia reiten mit diesen Dieben und Bauern.«
Die vier Gestalten galoppierten über die Ebene, ihre Standarten flatterten hinter ihnen, die Hufe ihrer Pferde wirbelten Staubwolken auf.
»Der in den schwarzen Roben ist wohl der Zauberer Fistandantilus?« fragte Dunkan mürrisch; durch seine schweren Augenbrauen war sein finsterer Blick fast nicht zu erkennen.
»Ja, Lehnsherr«, erwiderte ein General.
»Von allen fürchte ich ihn am meisten«, murmelte Dunkan düster.
»Pah!« Ein alter General strich selbstgefällig über seinen langen Bart. »Diesen Zauberer brauchst du nicht zu fürchten. Unsere Spione haben berichtet, daß seine Gesundheit angeschlagen ist. Er verwendet selten seine Magie, wenn überhaupt, und verbringt die meiste Zeit in seinem Zelt. Außerdem würde eine ganze Armee von Zauberern, alle so mächtig wie er, nötig sein, um diese Festung durch Magie zu erobern.«
»Vermutlich hast du recht«, sagte Dunkan, über seinen eigenen Bart streichend. Als er jedoch aus einem Augenwinkel einen Blick auf Kharas erhaschte, fühlte er sich plötzlich unbehaglich. »Dennoch haltet ein Auge auf ihn.« Er hob seine Stimme an. »Ihr Scharfschützen, ein Beutel Gold für denjenigen, dessen Pfeil in die Rippen des Zauberers trifft!«
Tosender Jubel setzte ein, der aber unverzüglich verstummte, als die vier vor der Festung anhielten. Der Anführer, der General, hob seine Handfläche nach außen in der uralten Geste des Waffenstillstandes. Über die Zinnen schreitend und auf einen Steinblock kletternd, der speziell für diesen Zweck errichtet worden war, legte Dunkan seine Hände an die Hüften, spreizte seine Beine und starrte grimmig hinab.
»Wir wollen reden!« schrie General Caramon von unten. Seine Stimme dröhnte und echote zwischen den Wänden des steilen Gebirges, von denen die Festung umgeben war.
»Es wurde bereits alles gesagt!« gab Dunkan zurück. Die Stimme des Zwerges erscholl fast genauso kraftvoll, obgleich er nur ein Viertel der Größe des Menschen hatte.
»Wir geben euch eine letzte Chance! Erstatte deinen Verwandten das zurück, von dem du weißt, daß es ihnen rechtmäßig zusteht! Gib diesen Menschen zurück, was du ihnen genommen hast. Teile deinen unermeßlichen Reichtum. Denn der Tod kann ihn nicht ausgeben!«
»Nein, aber ihr Lebenden würdet einen Weg finden, nicht wahr?« dröhnte Dunkan höhnisch zurück. »Was wir besitzen, haben wir durch ehrliche Plackerei erworben, indem wir unter den Bergen gearbeitet haben und nicht in der Begleitung wilder Barbaren durch das Land gezogen sind. Das ist unsere Antwort!«
Dunkan hob seine Hand. Scharfschützen zogen die Sehnen ihrer Bogen zurück. Dunkans Hand fiel herab, und hundert Pfeile zischten durch die Luft. Die Zwerge auf den Zinnen begannen zu lachen; sie erwarteten, die vier umdrehen und wie wahnsinnig um ihr Leben reiten zu sehen.
Aber das Lachen erstarb ihnen auf den Lippen. Die Gestalten rührten sich nicht von der Stelle, als die Pfeile auf sie zuschossen. Der schwarzgekleidete Zauberer hob seine Hand. Gleichzeitig ging die Spitze eines jeden Pfeils in Flammen auf, um den Schaft hüllte sich Rauch, und innerhalb von Augenblicken lösten sie sich in der hellen Morgenluft in nichts auf.
»Das ist unsere Antwort!« Die strenge, kalte Stimme des Generals trieb nach oben. Er wendete sein Pferd und galoppierte zu seiner Armee zurück, flankiert von dem schwarzgekleideten Zauberer, dem Hügelzwerg und dem Barbaren.
Als Dunkan seine Männer murren hörte und sie zweifelnde Blicke tauschen sah, unterdrückte er rigoros seine eigenen Zweifel und wandte sich ihnen zu. Sein Bart zitterte vor Zorn. »Was ist denn das?« herrschte er sie an. »Bekommt ihr Angst vor den Tricks eines Straßenillusionisten? Wen führe ich hier überhaupt an, eine Armee von Männern – oder von Kindern?«