Raistlin nickte selbstzufrieden, als er sich über den Sattelknauf beugte, um mit seinem Bruder zu sprechen. Caramon konnte sein Gesicht sehen; es war kalt und weiß wie der Frost auf dem Pflasterstein unter seinen Füßen.
»Was ist das für ein Unsinn?« herrschte Caramon ihn leise an. »Was soll das alles bedeuten? Du weißt genau, daß wir ohne Proviant nicht weitermarschieren können!«
»Jetzt gehst du aber zu sehr auf Nummer Sicher, mein Bruder«, antwortete Raistlin. Er zuckte die Achseln und fügte hinzu: »Die Nachschubwagen werden uns schon einholen. Und was die Waffen betrifft, haben die Männer hier nach der Schlacht welche erbeutet. Regar hat recht – wir müssen schnell zuschlagen, bevor sich Dunkan sammeln kann.«
»Das hättest du mit mir erörtern sollen!« fauchte Caramon und ballte die Faust. »Ich habe das Kommando!«
Raistlin sah weg. Caramon, der neben ihm stand, spürte seinen Bruder unter den schwarzen Roben zittern. »Dafür war keine Zeit«, sagte der Erzmagier nach einem Augenblick. »In der letzten Nacht hatte ich einen Traum, mein Bruder. Sie ist zu mir gekommen – meine Königin... Takhisis... Es ist unbedingt erforderlich, Zaman so schnell wie möglich einzunehmen.«
Caramon sah seinen Bruder schweigend an, plötzlich verstand er. »Sie bedeuten dir nichts!« sagte er leise und wies auf die Männer und Zwerge, die hinter ihm standen und warteten. »Du bist lediglich an einer Sache interessiert, nämlich dein kostbares Portal zu durchschreiten!« Sein verbitterter Blick glitt zu Crysania, die ihn ruhig musterte, obgleich ihre grauen Augen von einer schlaflosen, entsetzlichen Nacht getrübt waren, die sie bei den Verletzten und Sterbenden verbracht hatte. »Und du auch? Du unterstützt ihn auch noch?«
»Die Prüfung des Blutes, Caramon«, sagte sie sanft. »Sie muß durchgeführt werden. Ich habe den Gipfel der Bösartigkeit gesehen, die die Menschen einander antun können.«
»Das bezweifle ich!« brummte Caramon und warf seinem Bruder einen Blick zu.
Raistlin griff mit seinen schlanken Händen zu seiner Kapuze und zog sie langsam zurück. Caramon erschrak, als er sich in Raistlins Augen widergespiegelt sah, als er sein Gesicht sah – verhärmt, unrasiert, mit ungekämmten Haaren, die im Wind flatterten. Und dann, als Raistlin ihn anstarrte, ihn mit seinem Blick festhielt, so wie eine Schlange einen Vogel in ihren Bann schlägt, ertönten die Worte in Caramons Geist: »Du kennst mich gut, mein Bruder. Das Blut, das in unseren Adern fließt, spricht manchmal lauter als Worte. Ja, du hast recht. Dieser Krieg interessiert mich nicht. Ich trage ihn nur zu dem einzigen Zweck aus, das Portal zu durchschreiten. Diese Narren werden mich dorthin bringen. Und was soll es mich dann interessieren, ob wir gewinnen oder verlieren?
Ich habe dir erlaubt, General zu spielen, Caramon, da du dein kleines Spiel offenbar genossen hast. Du bist in der Tat überraschend gut darin. Du hast meinem Zweck angemessen gedient. Du wirst mir weiterhin dienen. Du wirst die Armee nach Zaman führen. Wenn Crysania und ich dort sicher angekommen sind, werde ich dich nach Hause schicken. Vergiß nicht, mein Bruder – die Schlacht in den Ebenen von Dergod wurde verloren! Du kannst das nicht ändern!«
»Ich glaube dir nicht!« sagte Caramon; er starrte Raistlin verstört an. »Du würdest nicht in deinen Tod reiten! Du mußt etwas wissen! Du...« Er stockte, bekam keine Luft.
»Meine Absichten behalte ich für mich! Was ich weiß oder nicht weiß, betrifft dich nicht, also strapaziere dein Gehirn nicht mit fruchtlosen Spekulationen.«
»Ich sage es ihnen!« Caramon zwang die Worte zwischen zusammengepreßten Zähnen heraus. »Ich sage ihnen die Wahrheit!«
»Was willst du ihnen sagen? Daß du die Zukunft gesehen hast? Daß sie zum Untergang verdammt sind?« Als er den Kampf in Caramons gequältem Gesicht sah, lächelte Raistlin. »Ich glaube es nicht, mein Bruder. Und falls du jemals wieder nach Hause zurückkehren möchtest, schlage ich vor, du gehst jetzt nach oben, legst deine Rüstung an und führst deine Armee.« Er zog sich die Kapuze wieder über die Augen.
Caramon sog die Luft mit einem Keuchen ein, als ob jemand kaltes Wasser in sein Gesicht gegossen hätte. Einen Augenblick konnte er seinen Bruder nur anstarren, vor Zorn erbebend, der ihn fast überwältigte. »Ich habe wohl keine andere Wahl«, sagte er.
»Nein«, erwiderte Raistlin. Er ergriff die Zügel. »Es gibt einige Dinge, um die ich mich kümmern muß. Crysania wird natürlich mit dir an der Spitze reiten. Warte nicht auf mich. Ich werde eine Zeitlang hinten reiten.«
Jetzt bin ich also entlassen, dachte Caramon. Als er seinen Bruder beim Wegreiten beobachtete, empfand er keinen Zorn mehr, nur noch einen dumpfen, nagenden Schmerz. Er drehte sich auf dem Absatz um, das bedrückende Schweigen eher spürend als hörend, das sich über den Hof gelegt hatte, ging allein in sein Quartier und legte langsam seine Rüstung an.
Als Caramon zurückkehrte, in seine goldene Rüstung gehüllt, erhoben die Zwerge, die Barbaren und die Männer seiner eigenen Armee ihre Stimmen zu tosendem Jubel.
Sie bewunderten und respektierten nicht nur aufrichtig den großen Mann, sondern schrieben ihm auch die hervorragende Strategie zu, die ihnen am Tag zuvor den Sieg eingebracht hatte. General Caramon hatte Glück, hieß es, er war von einem Gott gesegnet. War es denn kein Glück gewesen, daß die Zwerge die Tore so lange offengehalten hatten?
Die meisten fühlten sich unbehaglich, als das Gerücht aufkam, daß sie vielleicht ohne ihn davonreiten würden. Viele hatten düstere Blicke auf den schwarzgekleideten Zauberer geworfen, aber wer wagte schon, Mißfallen zu äußern?
Der Jubel spendete Caramon großen Trost, und einen Augenblick brachte er keinen Ton heraus. Als er dann die Stimme wiederfand, erteilte er mürrisch Befehle, während er sich für den Ritt bereit machte. Mit einer Geste rief er einen der jungen Ritter zu sich. »Michael, ich lasse dich hier in Pax Tarkas zurück, du wirst hier das Kommando führen«, sagte er, während er sich ein Paar Handschuhe überzog.
Der junge Ritter errötete vor Freude über diese unerwartete Ehre. »Herr, ich bin ungeeignet... Ein geeigneter Mann wird sicherlich...«
Ihn traurig anlächelnd, schüttelte Caramon den Kopf. »Ich kenne deine Eignung, Michael. Es wird nicht einfach sein, aber gib dein Bestes. Die Frauen und Kinder werden natürlich hier bleiben. Und ich schicke die Verwundeten zurück. Wenn die Nachschubwagen ankommen, sieh zu, daß sie so schnell wie möglich weiterfahren.« Er schüttelte den Kopf. »Das wird wahrscheinlich nicht schnell genug geschehen«, murmelte er. Seufzend fügte er hinzu: »Du kannst im Notfall den Winter hier durchhalten. Egal, was mit uns geschieht...« Als er sah, wie die Ritter mit besorgten Gesichtern Blicke austauschten, verkniff er sich weitere Worte. Nein, sein bitteres Vorwissen durfte er nicht zeigen. Fröhlichkeit vortäuschend, klopfte er Michael auf die Schulter, fügte etwas Albernes hinzu und stieg auf sein Pferd.
Der Fähnrich richtete die Standarte der Armee auf. Caramons Banner mit dem neunzackigen Stern glänzte hell in der Sonne. Seine Ritter bildeten hinter ihm Reihen. Crysania kam hinzu, um mit ihnen zu reiten. Obgleich die Ritter wie alle anderen im Lager mit einer »Hexe« nichts anfangen konnten, war sie trotz allem eine Frau, und aufgrund ihres Ehrbegriffs waren sie aufgerufen, sie mit ihrem Leben zu beschützen und zu verteidigen.
»Öffnet die Tore!« rief Caramon. Er warf einen letzten Blick um sich, um sich zu überzeugen, ob alle bereit waren, als seine Augen plötzlich denen seines Bruders begegneten.
Raistlin saß im Schatten der großen Tore auf seinem schwarzen Pferd. Er rührte sich nicht, noch sprach er. Er saß einfach da, beobachtend, wartend.
Die Zwillinge musterten einander so lange, wie man für einen Atemzug benötigt, dann wandte sich Caramon ab. Er nahm seine Standarte aus der Hand des Fähnrichs. Sie hoch über seinen Kopf haltend, schrie er nur ein Wort: »Thorbadin!« Die Morgensonne, die sich gerade über den Gipfeln erhob, brannte golden auf Caramons Rüstung. »Thorbadin!« schrie er noch einmal, gab seinem Pferd die Sporen und galoppierte zum Tor hinaus.