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Jetzt waren die Zelte von Wachen umgeben. Caramon winkte einen Mann herbei und wartete, bis Garik in sein Bett gebracht worden war. Dann riß er sich zusammen und trat in Raistlins Zelt.

Eine Kerze brannte auf einem Tisch neben einem geöffneten Zauberbuch – der Erzmagier war offensichtlich davon ausgegangen, nach dem Abendessen sofort zu seinen Studien zurückzukehren. Ein von Schlachten zernarbter Zwerg mittleren Alters – Caramon erkannte ihn als einen aus Regars Stab wieder – hockte im Schatten neben dem Bett. Ein Wächter neben dem Eingang salutierte, als Caramon eintrat.

»Warte draußen«, befahl Caramon, und der Wächter verschwand.

»Er erlaubt uns nicht, ihn zu berühren«, sagte der Zwerg und nickte zu Raistlin hin. »Die Wunde muß verbunden werden. Wird natürlich nicht viel nützen. Aber es könnte ein bißchen seine Eingeweide zusammenhalten.«

»Ich kümmere mich um ihn«, sagte Caramon barsch.

Raistlin lag auf einem Bett, immer noch angekleidet, seine Hände umklammerten die entsetzliche Wunde. Die Roben des Magiers und sein Fleisch waren in einer schauderhaften, blutigen Masse verklebt, und er lag im Todeskampf. Jeder Atemzug, den er ausstieß, war ein leises, unzusammenhängendes Stöhnen.

Aber für Caramon waren der schrecklichste Anblick die glitzernden Augen seines Bruders, die ihn anstarrten, ihn erkannten, als er sich dem Bett näherte. Raistlin war bei Bewußtsein.

Caramon kniete sich neben das Bett seines Bruders und legte eine Hand auf dessen fiebrigen Kopf. »Warum läßt du nicht Crysania kommen?« fragte er leise.

Raistlin schnitt eine Grimasse. Er biß seine Zähne zusammen, zwang aus seinen blutbefleckten Lippen Worte hervor. »Paladin... wird... mich... nicht... heilen!« Das letzte Wort war ein Keuchen, das in einem erstickten Schrei endete.

Caramon starrte ihn verwirrt an. »Aber du kannst nicht sterben! Sie haben gesagt...«

Raistlin rollte die Augen, schüttelte den Kopf. »Zeit... verändert... Alles... anders!«

»Aber...«

»Laß mich in Ruhe! Laß mich sterben!« kreischte Raistlin in Zorn und Schmerz. Sein Körper krümmte sich.

Caramon erschauerte. Er versuchte mit Mitleid auf seinen Bruder zu blicken, aber das verzerrte Gesicht war ein Gesicht, das er nicht kannte.

Die Maske der Weisheit und Intelligenz war abgerissen, enthüllt waren die Linien des Stolzes, des Ehrgeizes, der Habsucht und der gefühllosen Grausamkeit. Es schien Caramon, als ob er seinen Bruder zum ersten Mal sähe.

Vielleicht, dachte Caramon, hat Dalamar dieses Gesicht im Turm der Erzmagier gesehen, als Raistlin mit bloßen Händen die Löcher in sein Fleisch brannte. Vielleicht hat auch Fistandantilus das Gesicht gesehen, bevor er starb...

Caramon löste seinen Blick von diesem entsetzlichen Gesicht. Doch dann streckte er seine Hand aus. »Laß mich die Wunde verbinden.«

Raistlin schüttelte heftig den Kopf. Eine blutverschmierte Hand klammerte sich um Caramons Arm. »Nein! Mach ein Ende! Ich habe versagt! Die Götter lachen! Ich kann... es nicht ertragen...«

Caramon starrte ihn an. Plötzlich wurde der große Mann von Zorn ergriffen – Zorn, der aus Jahren der sarkastischen Bemerkungen hochstieg. Caramon streckte seine Hand aus, packte die schwarzen Roben und hob den Kopf seines Bruders hoch. »Nein, bei den Göttern«, schrie er. »Nein, du wirst nicht sterben! Jetzt hör mir mal zu!« Seine Augen verengten sich. »Du wirst nicht sterben, mein Bruder! Dein ganzes Leben lang hast du nur für dich gelebt. Und selbst jetzt im Sterben suchst du den einfachsten Ausweg. Du läßt mich hier in einer Falle zurück, ohne darüber einen Gedanken zu verlieren. Du läßt Crysania zurück! Nein, Bruder! Du wirst leben, verdammt! Du wirst leben, um mich nach Hause zu schicken. Was du danach machst, ist deine Angelegenheit.«

Raistlin sah Caramon an. Es schien fast, als ob er lachen wollte, aber statt dessen schoß eine Blutblase aus seinem Mund. Caramon lockerte seinen Griff an den Roben seines Bruders und legte ihn zurück. Raistlins Augen verschlangen Caramon. Das einzige Leben in ihnen war bitterer Haß und Zorn.

»Ich werde Crysania informieren«, sagte Caramon, erhob sich und übersah Raistlins zorniges Funkeln. »Zumindest muß sie versuchen, dich zu heilen. Ja, wenn Blicke töten könnten, würde ich jetzt sofort umfallen. Aber hör mir zu, Raistlin oder Fistandantilus oder wer du bist – wenn es Paladins Wille ist, daß du stirbst, bevor du der Welt noch größeren Schaden zufügen kannst, dann soll es so sein. Ich werde das hinnehmen und auch Crysania. Aber falls es sein Wille ist, daß du leben sollst, werden wir das ebenfalls annehmen... und du auch!«

Raistlin, dessen Kräfte fast verbraucht waren, hielt seinen blutigen Griff noch um Caramons Arm, umklammerte ihn mit Fingern, die fast im Tod erstarrt waren.

Entschlossen und mit zusammengepreßten Lippen löste sich Caramon von seinem Bruder. Er erhob sich; hinter sich hörte er ein qualvolles Stöhnen. Er trat in die Nacht hinaus und ging schnell auf Crysanias Zelt zu. Dabei sah er zur Seite und erblickte den Zwerg, der lässig im Schatten stand und mit einem scharfen Messer ein Stück Holz bearbeitete.

Caramon zog das Stück Pergament hervor. Er brauchte es nicht noch einmal zu lesen. Es waren nur wenige Worte.

»Der Zauberer hat dich und die Armee verraten. Schick einen Boten nach Thorbadin, um die Wahrheit zu erfahren.«

Caramon warf das Stück Pergament auf den Boden.

Durch die entsetzlichen Schmerzen konnte Raistlin das Gelächter der Götter hören. Wie sehr sie sich an seiner Niederlage weiden mußten!

Raistlins gepeinigter Körper krümmte sich in Krämpfen, und seine Seele tat es ihm gleich; sie zuckte in ohnmächtiger Wut, brannte im Wissen seines Versagens!

»Schwächlicher, erbärmlicher Mensch!« hörte er die Stimmen der Götter rufen. »Auf diese Weise erinnern wir dich an deine Sterblichkeit!«

Er würde Paladin nicht entgegentreten! Zu sehen, wie der Gott ihn verhöhnte, sich an seinem Untergang weidend – nein! Lieber schnell sterben, seine Seele die dunkle Zuflucht suchen lassen, die sie finden konnte. Aber dieser Bastard von Bruder, diese andere Hälfte von ihm, die Hälfte, die er beneidete und verabscheute, die Hälfte, die er hätte sein sollen – von Rechts wegen. Ihm dies zu versagen... diesen letzten gesegneten Trost...

»Caramon!« schrie Raistlin in die Dunkelheit. »Caramon, ich brauche dich! Caramon, laß mich nicht allein!« Er schluchzte, umklammerte seinen Bauch, rollte sich zu einer Kugel zusammen. »Laß mich nicht allein!«

Und dann verlor er das Bewußtsein. Weißes Licht, rein und kalt und scharf wie ein Schwert, schnitt sich durch den Geist des Magiers. Sich krümmend, versuchte er zu entkommen, versuchte, in die warme und trostspendende Dunkelheit zu tauchen. Er konnte sich selbst hören, wie er Caramon anbettelte, ihn zu töten und den Schmerz zu beenden, das helle und stechende Licht zu löschen.

Das Licht wurde heller und verwandelte sich in ein Gesicht, ein wunderschönes, ruhiges, reines Gesicht mit dunklen grauen Augen. Kühle Hände berührten seine glühende Haut.

»Laß mich dich heilen.«

Das Licht schmerzte schlimmer als der Schmerz des Stahls. Schreiend, sich krümmend, versuchte Raistlin zu entkommen, aber die Hände hielten ihn fest.

»Laß mich dich heilen.«

»Geh... weg!«

»Laß mich dich heilen!«

Erschöpfung, eine unermeßliche Erschöpfung legte sich über Raistlin. Er war des Kämpfens müde – des Kämpfens gegen den Schmerz, des Kämpfens gegen den Spott, des Kämpfens gegen die Qual, mit der er sein ganzes Leben lang gelebt hatte.

Na schön, sollen die Götter doch lachen! Ich habe es schließlich verdient, dachte Raistlin verbittert. Soll er sich doch weigern, mich zu heilen. Und dann ruhe ich mich in der Dunkelheit aus... in der trostspendenden Dunkelheit...

Er schloß die Augen, schloß sie fest gegen das Licht und wartete auf das Lachen – und sah plötzlich das Gesicht des Gottes.

Caramon stand draußen im Schatten des Zeltes seines Bruders, seinen schmerzenden Kopf in den Händen vergraben. Raistlins Sterbewünsche quälten ihn. Schließlich ertrug er es nicht mehr. Die Klerikerin hatte offensichtlich versagt. Seinen Schwertknauf umklammernd, betrat Caramon das Zelt und ging auf das Bett zu.