In diesem Augenblick hörte Raistlin zu schreien auf.
Crysania fiel über seinen Körper, ihr Kopf auf die Brust des Magiers.
Er ist tot, dachte Caramon. Raistlin ist tot. Er empfand keine Trauer. Statt dessen beschlich ihn eine Art Entsetzen bei dem Anblick, und er dachte: Was ist das nur für eine groteske Totenmaske!
Raistlins Gesicht war starr, sein Mund sperrangelweit geöffnet. Die Haut war aschgrau. Die blinden Augen, in eingefallene Wangen gesunken, starrten geradeaus.
Caramon trat einen Schritt näher, so betäubt, daß er weder Trauer noch Kummer noch Erleichterung empfinden konnte, und musterte schärfer den seltsamen Ausdruck im Gesicht des toten Mannes. Aber er erkannte schockartig, daß Raistlin nicht tot war! Die weiten Augen starrten blind in diese Welt, aber nur, weil sie in eine andere sahen.
Ein wimmernder Schrei fuhr durch den Körper des Magiers, der schrecklicher zu ertragen war als seine Schreie in der Todesqual. Sein Kopf bewegte sich leicht, seine Lippen teilten sich, seine Kehle zuckte, aber es kam kein Laut heraus.
Und dann schloß Raistlin die Augen. Sein Kopf rollte zur Seite, seine zuckenden Muskeln entspannten sich. Der schmerzvolle Blick verschwand, ließ sein Gesicht abgespannt, blaß zurück. Er holte tief Luft, atmete sie mit einem Seufzer aus, dann holte er wieder Luft...
Geschockt über das, was er gesehen hatte, unsicher, ob er dankbar sein sollte oder betrübt, daß sein Bruder nun doch lebte, beobachtete Caramon, wie das Leben in den zerrissenen und blutenden Körper seines Bruders zurückkehrte. Er kniete sich neben Crysania und hielt sie sanft, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Sie starrte ihn an, ohne ihn zu erkennen. Dann ging ihr Blick zu Raistlin. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. Die Augen schließend, murmelte sie ein Dankgebet. Dann hielt sie die Hand an ihre Seite und sank gegen Caramon. An ihren weißen Roben war frisches Blut sichtbar.
»Du solltest dich selbst heilen«, sagte Caramon, als er ihr aus dem Zelt half; sein starker Arm unterstützte ihre taumelnden Schritte.
Sie sah zu ihm auf, und ihr Gesicht war wunderschön in ihrem ruhigen Triumph. »Vielleicht morgen«, antwortete sie leise. »In dieser Nacht wurde mir ein größerer Sieg gewährt. Verstehst du nicht? Das ist die Antwort auf meine Gebete.«
Caramon spürte Tränen in seinen Augen aufsteigen. »Das ist also deine Antwort?« fragte er schroff und sah zum Lager hinüber. Die Feuer waren zu Asche heruntergebrannt. Aus dem Augenwinkel konnte er jemanden weglaufen sehen, und er wußte, daß sich die Neuigkeit schnell verbreiten würde, daß der Zauberer und die Hexe es geschafft hatten, von den Toten wieder aufzuerstehen.
Caramon spürte Galle in seinen Mund hochkommen. Er konnte sich das Gerede, die Aufregung, die Fragen, die dunklen Blicke und das Kopfschütteln ausmalen, und seine Seele schrak davor zurück. Er wollte nur noch ins Bett und schlafen und alles vergessen.
Aber Crysania sprach weiter. »Das ist auch deine Antwort, Caramon«, sagte sie leidenschaftlich. »Das ist das Zeichen der Götter, das wir beide gesucht haben.« Sie blieb stehen und sah ihm ins Gesicht. »Bist du immer noch so blind wie damals im Turm? Bist du immer noch nicht überzeugt? Wir haben die Angelegenheit in Paladins Hände gelegt, und der Gott hat gesprochen. Raistlin soll leben. Er soll diese große Tat vollbringen. Gemeinsam, er und ich und du, wenn du uns begleiten wirst, bekämpfen und überwältigen wir das Böse, so wie ich den Tod in dieser Nacht bekämpft und überwältigt habe!«
Caramon starrte sie an. Dann senkte er den Kopf. Ich will nicht das Böse bekämpfen, dachte er müde. Ich will nur nach Hause. Ist das zu viel verlangt?
Er hob die Hand und rieb an seinen pochenden Schläfen. Und dann hielt er inne, sah im langsam heller werdenden Licht der Morgendämmerung die blutigen Fingerspuren seines Bruders an seinem Arm. »Ich stelle eine Wache vor deinem Zelt auf«, sagte er barsch. »Schlaf ein wenig...« Er drehte sich um.
»Caramon«, rief Crysania.
»Was?«
»Du wirst dich morgen besser fühlen. Ich werde heute nacht für dich beten. Gute Nacht, mein Freund. Vergiß nicht, Paladin dafür zu danken, daß er deinem Bruder das Leben erhalten hat.«
»Ja, sicherlich«, murmelte Caramon. Sich unbehaglich fühlend, da sich seine Kopfschmerzen verschlimmerten und ihm bald übel werden würde, verließ er Crysania und taumelte in sein Zelt zurück.
Hier, allein, in der Dunkelheit, erbrach er sich in einer Ecke. Dann fiel er auf sein Bett und gab sich endlich dem Schmerz und der Erschöpfung hin. Über dem Dankgebet an Paladin schlief er ein.
10
Kharas tippte leicht auf den Gaststein der vor Dunkans Wohnhaus stand und wartete nervös auf die Antwort. Sie kam schnell. Die Tür öffnete sich, und im Rahmen stand sein König.
»Tritt ein und sei willkommen, Kharas«, grüßte Dunkan und zog den Zwerg hinein.
Vor Verlegenheit errötend trat Kharas in das Wohnhaus seines Königs. Ihn freundlich anlächelnd, um ihm seine Befangenheit zu nehmen, ging Dunkan voran zu seinem privaten Arbeitszimmer.
Tief unter der Erde im Herzen des Gebirgskönigreiches gebaut, war Dunkans Haus ein Labyrinth aus Räumen und Tunneln, die mit den schweren, dunklen und soliden Holzmöbeln ausgestattet waren, die die Zwerge so lieben. Obgleich größer und geräumiger als die meisten Häuser in Thorbadin, glich Dunkans Haus in jeder anderen Hinsicht den Behausungen der anderen Zwerge. Es wäre auch als die Höhe schlechten Geschmacks bewertet worden, wenn es anders gewesen wäre. Denn gerade weil Dunkan der König war, hatte er nicht das Recht zu Extravaganzen. Und aus diesem Grund hatte er zwar einen Stab von Dienern, öffnete aber selbst die Tür und bediente seine Gäste persönlich. Als Witwer lebte er in dem Haus mit seinen zwei jungen Söhnen (erst achtzig), die noch unverheiratet waren.
Das Arbeitszimmer, in das Kharas geführt wurde, war offensichtlich Dunkans Lieblingsraum. Kriegsäxte und Schilde schmückten die Wände sowie eine prächtige Sammlung erbeuteter Hobgoblin-Schwerter mit ihren Krummklingen, ein von einem entfernten Vorfahren erworbener Minotaurusdreizack und natürlich Hämmer, Meißel und anderes Steinmetzwerkzeug.
Dunkan bewirtete seinen Gast mit wahrer Zwergengastfreundschaft, bot ihm den besten Stuhl an, goß ihm Bier ein und schürte das Feuer.
Kharas war natürlich schon hier gewesen, in der Tat viele Male. Aber jetzt fühlte er sich unbehaglich und befangen, als ob er das Haus eines Freundes betreten hätte. Vielleicht lag es an Dunkan, der seinen Freund zwar mit seiner üblichen Liebenswürdigkeit behandelte, aber den bartlosen Zwerg gelegentlich mit einem merkwürdigen, durchdringenden Blick betrachtete.
Da er diesen ungewöhnlichen Blick in Dunkans Augen bemerkte, war es Kharas unmöglich, sich zu entspannen. So zappelte er unruhig auf seinem Stuhl herum, während er auf die Beendigung der Formalitäten wartete.
Das geschah schnell. Dunkan, der sich selbst einen Krug Bier eingeschenkt hatte, leerte ihn in einem Zug. Dann strich er sich über den Bart und starrte Kharas mit einem dunklen, trübsinnigen Ausdruck an. »Kharas«, sagte er schließlich, »du hast uns gesagt, der Zauberer sei tot.«
»Ja, Lehnsherr«, antwortete Kharas verblüfft. »Ich habe ihm einen tödlichen Hieb verpaßt. Kein Mensch hätte das überleben können...«
»Er hat«, entgegnete Dunkan kurz.
Kharas’ Blick verfinsterte sich. »Beschuldigst du mich der...«
Jetzt errötete Dunkan. »Nein, mein Freund! Ich bin mir sicher, daß du wahrhaftig geglaubt hast, ihn getötet zu haben.« Er seufzte tief. »Aber unsere Kundschafter berichten, sie hätten ihn im Lager gesehen. Er war offenbar verwundet. Zumindest konnte er nicht mehr reiten. Die Armee marschierte jedoch weiter auf Zaman zu und transportierte den Zauberer auf einem Karren.«