»Lehnsherr!« protestierte Kharas, sein Gesicht war vor Zorn rot. »Ich schwöre es dir! Sein Blut spritzte über meine Hände! Ich riß das Schwert aus seinem Körper. Bei Reorx, ich sah den Tod in seinen Augen!«
»Ich zweifle nicht an dir!« sagte Dunkan aufrichtig und klopfte dem jungen Helden auf die Schulter. »Ich habe noch nie gehört, daß jemand eine Wunde überlebt hat, wie du sie beschrieben hast – außer in den alten Zeiten natürlich, als die Kleriker durch das Land gingen.«
Wie alle wahren Kleriker waren auch die Zwergenkleriker vor der Umwälzung verschwunden. Ungleich anderen Rassen auf Krynn hatten die Zwerge jedoch ihren Glauben an ihren uralten Gott Reorx, den Schmied der Welt, niemals aufgegeben. Die Zwerge waren zwar aufgebracht über Reorx, weil er die Umwälzung herbeigeführt habe, aber ihr Glaube war zu tief verwurzelt und stellte einen zu großen Teil ihrer Kultur dar, als daß sie ihn nach einem geringfügigen Verstoß des Gottes aufgegeben hätten. Sie waren jedoch aufgebracht genug, ihn nicht mehr offen zu verehren.
»Hast du irgendeine Idee, wie das passiert sein könnte?« fragte Dunkan stirnrunzelnd.
»Nein, Lehnsherr«, antwortete Kharas undeutlich. »Aber ich frage mich, warum wir von Caramon keine Antwort erhalten haben.« Er grübelte. »Wurden die zwei Gefangenen verhört, die wir mitgebracht haben? Sie könnten etwas wissen.«
»Ein Kender und ein Gnom?« schnaufte Dunkan. »Pah! Was sollen die schon wissen? Außerdem besteht keine Notwendigkeit, sie zu verhören. An diesem Zauberer bin ich nicht mehr sonderlich interessiert. In der Tat habe ich dich aus einem anderen Grund hierher gebeten. Ich bestehe nämlich darauf, Kharas, daß du endlich dieses Gerede über Frieden vergißt und dich auf den Krieg konzentrierst.«
»In diesen zwei stecken mehr als Bärte«, murmelte Kharas, ein altes Sprichwort zitierend. »Ich denke, du solltest...«
»Ich weiß, was du denkst«, unterbrach Dunkan grimmig. »Geister, von dem Zauberer herbeigerufen. Und ich sage dir, das ist lächerlich! Welcher sich selbst achtende Zauberer würde einen Kender herbeirufen? Nein, es waren Diener oder etwas Ähnliches. Im Zelt war es dunkel und alles durcheinander. Das hast du selbst gesagt.«
»Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte Kharas leise. »Du hättest das Gesicht des Magiers sehen sollen, als er sie ansah! Es war das Gesicht eines, der in den Ebenen spaziert und plötzlich eine Truhe mit Gold und Juwelen im Sand vor seinen Füßen liegen sieht. Gib mir die Erlaubnis«, sagte er eifrig, »laß sie mich vor dich bringen. Sprich mit ihnen, um mehr bitte ich nicht!«
Dunkan stieß einen langen Seufzer aus, dann funkelte er Kharas düster an. »Na schön«, schnappte er. »Vermutlich kann das nicht schaden. Aber«, er musterte Kharas scharf, »wenn sich das Verhör als nutzlos erweist, mußt du mir versprechen, diesen wahnsinnigen Plan aufzugeben und dich auf den Krieg zu konzentrieren. Es wird ein harter Kampf«, fügte er sanfter hinzu, als er den Ausdruck wahren Kummers auf dem bartlosen Gesicht des jungen Helden sah.
»Wir brauchen dich, Kharas.«
»Ja, Lehnsherr«, sagte Kharas ruhig. »Ich bin einverstanden. Wenn es sich als nutzlos erweist.«
Mit einem mürrischen Nicken rief Dunkan nach seinen Wachen und stapfte aus dem Haus, gefolgt von einem nachdenklichen Kharas.
Sie gingen durch das unterirdische Zwergenkönigreich, gingen Straßen hinab und andere Straßen hinauf und fuhren mit einem Boot über den Urkansee, bis sie schließlich die erste Ebene der Verliese erreichten. Hier wurden Gefangene gehalten, die geringfügige Verstöße begangen hatten – Schuldner, ein junger Zwerg, der respektlos zu einem Älteren gesprochen hatte, Wilderer und mehrere Betrunkene, die ihren Rausch ausschliefen. Und hier wurden auch der Kender und der Gnom festgehalten.
Zumindest war das der Fall gewesen – in der Nacht zuvor.
»Das kommt alles nur so«, sagte Tolpan Barfuß, während die Zwergenwache ihn vorantrieb, »wenn man keine Karte hat.«
»Ich dachte, du hast gesagt, du wärst hier zuvor gewesen«, brummte Gnimsch übellaunig.
»Nicht zuvor«, verbesserte Tolpan. »Nachher. Oder vielleicht wäre ›später‹ ein besseres Wort. Ungefähr zweihundert Jahre später, so weit ich rechnen kann. Es ist in der Tat eine faszinierende Geschichte. Ich kam mit einigen Freunden hierher. Laß mal sehen... Das war nach der Hochzeit von Goldmond und Flußwind und bevor wir nach Tarsis weiterzogen. Oder sind wir erst in Tarsis gewesen?« Tolpan grübelte. »Nein, das kann nicht sein, weil in Tarsis das Gebäude auf mich gefallen ist und...«
»Ich habe diese Geschichte schon gehört!« rief Gnimsch. Seine dünne Gnomenstimme hallte in der unterirdischen Kammer, und er wurde von mehreren Passanten streng angefunkelt. Mit grimmigen Gesichtern trieben die Zwergenwachen ihre wiederergriffenen Gefangenen weiter.
»Oh«, machte Tolpan geknickt. Dann wurde er wieder froh. »Aber der König noch nicht, und wir werden jetzt zu ihm gebracht. Er wird wahrscheinlich recht interessiert sein...«
»Du hast aber gesagt, wir sollen überhaupt nichts über die Zukunft sagen«, erinnerte ihn Gnimsch flüsternd. »Wir sollen so tun, als ob wir hierher gehören, weißt du nicht mehr?«
»Da hatte ich gedacht, alles würde gut gehen«, erklärte Tolpan mit einem Seufzer. »Und alles ging gut. Das Gerät hat funktioniert, wir sind aus der Hölle entkommen...«
»Sie ließen uns entkommen«, warf Gnimsch ein.
»Nun, jedenfalls sind wir herausgekommen, darauf kommt es an. Und das magische Gerät hat funktioniert, wie du gesagt hast, und wir fanden Caramon. Aber dann«, Tolpan kaute nervös am Ende seines Haarzopfes, »ging alles irgendwie schief. Raistlin wird niedergestochen und ist vielleicht tot. Die Zwerge zerren uns mit, ohne mir Gelegenheit zu geben, ihnen zu sagen, daß sie einen großen Fehler begehen.« Der Kender trottete weiter. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Ich habe über alles nachgedacht, Gnimsch. Ich weiß, es ist eine Verzweiflungstat und eine, auf die ich normalerweise nicht zurückgreifen würde, aber ich glaube nicht, daß uns etwas anderes übrigbleibt. Die Situation ist uns gänzlich entglitten.« Er stieß einen feierlichen Seufzer aus. »Ich glaube, wir sollten die Wahrheit sagen.«
Gnimsch wirkte darüber so beunruhigt, daß er über seine Schürze stolperte und zu Boden fiel. Die Wachen zerrten den Gnom auf die Füße und zogen ihn den restlichen Weg mit sich, bis sie schließlich vor einer großen Holztür stehen blieben. Hier standen andere Wachen, die den Kender und den Gnom mit Abscheu beäugten.
»Oh, hier war ich schon einmal!« sagte Tolpan plötzlich. »Jetzt weiß ich, wo wir sind.«
»Das ist fürwahr eine große Hufe«, brummte Gnimsch.
»Der Empfangssaal«, setzte Tolpan fort. »Als wir das letzte Mal hier waren, wurde Tanis übel. Er ist ein Elf, weißt du. Nun ja, ein halber Elf, und er haßt das Leben im Untergrund.« Er seufzte wieder. »Ich wünschte, Tanis wäre jetzt hier. Er würde wissen, was zu tun ist. Ich wünschte, irgendein Kluger wäre jetzt hier.«
Die Wachen stießen sie in die riesige Halle hinein. »Zumindest«, sagte Tolpan leise zu Gnimsch, »sind wir nicht allein. Zumindest haben wir uns beide.«
»Tolpan Barfuß«, stellte sich der Kender vor und verbeugte sich vor dem König der Zwerge, dann vor den Lehnsmännern, die auf den Steinsitzen hinter und eine Stufe tiefer als Dunkans Thron saßen. »Und das ist...«
Der Gnom schob sich eifrig nach vorne. »Gnimschmari...«
»Gnimsch!« sagte Tolpan laut und trat auf den Fuß des Gnoms. »Überlaß mir das Reden!« schimpfte er in einem hörbaren Flüstern.
Mit finsterem Blick verfiel Gnimsch in ein verletztes Schweigen.
»Woher kommst du, Kender?« knurrte Dunkan.
»Aus Solace«, sagte Tolpan. »Oh, mach dir keine Gedanken, wenn du noch nie davon gehört hast. Es existiert noch nicht. In Istar hatten sie auch noch nicht davon gehört, aber das spielt keine so große Rolle, weil sich in Istar niemand um etwas gekümmert hat, was nicht da ist. In Istar, meine ich. Solace liegt nördlich von Haven, das jetzt auch noch nicht da ist, aber früher da sein wird als Solace, wenn du verstehst, was ich meine.«