Plötzlich aber ergriff er den Stab des Magus, seine schwarzen Roben schlugen um ihn, und dann stürmte er durch die offene Tür.
Tolpan sah ihn an dem Dunkelzwerg vorbeisausen, der an der Tür Wache stand. Der Zwerg blickte in das Gesicht des Magiers, als dieser wie blind an ihm vorbeilief, und mit einem wilden Aufschrei drehte er sich um und flitzte in die entgegengesetzte Richtung davon.
Das alles war so wunderlich, daß Tolpan einige Zeit brauchte, um zu erkennen, daß er kein Gefangener mehr war. Ich muß Caramon finden und ihm sagen, daß ich das magische Gerät habe und wir nach Hause können, dachte er. Ich habe es niemals für möglich gehalten, daß ich so etwas denke, aber »nach Hause« klingt so schön. Er stand auf und ging, zwar noch etwas wackelig, durch den dunklen Raum zu dem fackelbeleuchteten Korridor, den er hinter der Tür erkennen konnte.
Er spähte vorsichtig in beide Richtungen, aber niemand war in Sicht, und so schlich er durch den Korridor. Es gab lediglich weitere dunkle, verschlossene Zellen – so wie seine eigene – und eine Treppe an einem Ende, die nach oben führte. In der anderen Richtung sah er nichts als dunkle Schatten.
»Ich frage mich, wo ich mich befinde.« Er ging zu der Treppe, da dies, soweit er erkennen konnte, der einzige Weg nach oben war. Er horchte und konnte Stimmen hören.
»Verdammt«, murmelte er, blieb stehen und duckte sich in den Schatten zurück. »Jemand ist oben. Vermutlich Wachen. Klingt nach diesen Dewaren.« Er stand still da und versuchte zu verstehen, was die Stimmen sagten. »Man könnte meinen, sie sprechen eine zivilisierte Sprache.« Seine Neugier siegte, und er schlich die Treppe hoch und spähte um die Ecke. »Zwei von ihnen. Und es gibt keinen Weg um sie herum.« Mutig ging er zu ihnen hin und sagte fröhlich: »Hallo, mein Name ist Tolpan Barfuß.« Er streckte die Hand aus. »Und wie heißt ihr?«
Die Dewaren, die den Kender mit wachsender Beunruhigung angestarrt hatten, schrien ein Wort, drehten sich um und stürzten davon.
»Antarax«, wiederholte Tolpan, ihnen verwirrt nachschauend. »Laß mal sehen. Das klingt wie das Zwergenwort für... natürlich! Brennender Tod. Ah – sie glauben, ich hätte immer noch die Pest! Nun, das ist praktisch. Oder nicht?« Er war in dem langen Korridor allein. »Ich weiß immer noch nicht, wo ich bin, und niemand scheint geneigt zu sein, es mir zu sagen. Der einzige Weg nach draußen ist diese Treppe. Es ist wohl das Beste, den beiden nachzugehen. Caramon soll auch hier sein.«
Er folgte ihnen die Treppe hinauf. Als er um eine weitere Ecke bog, blieb er plötzlich stehen. Die zwei, denen er gefolgt war, waren ihrerseits auf ungefähr zwanzig andere Zwerge gestoßen. Sich im Schatten zusammenkauernd, konnte Tolpan sie aufgeregt schwatzen hören und erwartete, daß sie jeden Moment die Suche nach ihm aufnehmen würden...
Aber nichts geschah.
Er wartete, lauschte der Unterhaltung, dann riskierte er einen Blick und erkannte, daß einige der Zwerge nicht wie Dewaren aussahen. Sie waren sauber, ihre Bärte gekämmt, und sie waren in glänzende Rüstungen gehüllt. Sie starrten grimmig einen der Dewaren an, als würden sie ihm am liebsten die Haut abziehen.
»Bergzwerge!« murmelte Tolpan erstaunt. »Und nach dem, was Raistlin gesagt hat, sind sie die Feinde. Was bedeutet, sie sollten in ihrem Berg sein und nicht in unserem. Vorausgesetzt natürlich, wir befinden uns in einem Berg, was ich allmählich denke, so wie es hier aussieht. Aber ich frage mich...«
Als einer der Bergzwerge zu sprechen anfing, freute sich Tolpan. »Endlich jemand, der vernünftig sprechen kann!« Er seufzte erleichtert auf.
»Wir sind gekommen, um den Kopf dieses Generals Caramon zu holen«, knurrte der Bergzwerg. »Du hast gesagt, der Zauberer habe versprochen, es werde alles vorbereitet. Wenn das so ist, können wir auf den Zauberer verzichten. Ich möchte sowieso nicht mit einer Schwarzen Robe verhandeln. Und jetzt antworte mir, Argat. Ist dein Volk bereit, die Armee von innen anzugreifen? Seid ihr vorbereitet, den General zu töten? Oder war das nur ein Trick? Wenn ja, dann wird es deinem Volk in Thorbadin schlecht ergehen!«
»Es ist kein Trick!« knurrte Argat. »Wir sind bereit. Der General ist im Kriegszimmer. Der Zauberer sagte, er stellt sicher, daß er nur mit einer Leibwache zusammen ist. Unser Volk wird die Hügelzwerge angreifen. Wenn du deinen Teil des Handels erfüllst, wenn die Kundschafter das Signal geben, daß die großen Tore von Thorbadin offen sind...«
»Das Signal ertönt gerade, noch während wir sprechen«, rief der Bergzwerg. »Wenn wir oben im Erdgeschoß wären, könntest du die Trompeten hören. Die Armee rückt aus!«
»Dann gehen wir!« sagte Argat. Er verbeugte sich und fügte höhnisch hinzu: »Wenn du dich traust, komm mit uns – wir nehmen General Caramons Kopf jetzt gleich!«
»Ich komme mit dir«, erwiderte der Bergzwerg kalt, »nur um mich zu überzeugen, daß du keinen Verrat planst!«
Was die zwei noch sagten, ging an Tolpan vorbei, der sich gegen die Wand lehnte. Seine Beine krabbelten, und in seinen Ohren surrte es geräuschvoll. »Caramon!« flüsterte er und versuchte zu denken. »Sie wollen ihn töten! Und Raistlin hat das veranlaßt!« Tolpan erschauerte. »Armer Caramon! Sein Zwillingsbruder. Wenn er das wüßte, würde es ihn wohl auf der Stelle töten. Die Zwerge brauchten nicht einmal Äxte.« Plötzlich fuhr sein Kopf in die Höhe. »Tolpan Barfuß«, sagte er wütend, »was tust du hier? Du mußt ihn retten! Du hast Tika versprochen, daß du dich um ihn kümmerst.«
»Ihn retten? Wie, du Türknopf?« dröhnte eine Stimme in ihm, die sich verdächtig nach Flint anhörte.
»Ich werde mir schon etwas ausdenken«, gab Tolpan zurück. »Also bleib nur unter deinem Baum sitzen!«
Ein höhnisches Schnaufen war die Antwort. Der Kender überhörte es entschlossen, zog sein kleines Messer und schlich leise durch den Korridor.
14
Sie hatte das gleiche dunkle, lockige Haar und das verschmitzte Lächeln, das Männer bei ihrer Tochter so bezaubernd finden würden. Sie hatte die einfache, unschuldige Ehrlichkeit, die für einen ihrer Söhne kennzeichnend sein würde, und sie hatte eine Gabe – eine seltene und wunderbare Kraft —, die sie dem anderen weiterreichen würde.
Sie hatte Magie in ihrem Blut wie auch ihr Sohn. Aber sie war schwach – schwach im Willen, schwach im Geist. So ließ sie es zu, daß die Magie die Oberhand über sie bekam, und so starb sie schließlich.
Weder die seelisch robuste Kitiara noch den körperlich starken Caramon berührte der Tod der Mutter sonderlich. Kitiara haßte ihre Mutter mit bitterer Eifersucht, während Caramon sich zwar um seine Mutter kümmerte, aber seinem Bruder näherstand. Zudem stellten das unheimliche Umherstreifen und die geheimnisvollen Trancen seiner Mutter für den jungen Krieger ein völliges Rätsel dar.
Aber ihr Tod vernichtete Raistlin. Er war ihr einziges Kind, das sie wirklich verstand, das sie bemitleidete, auch wenn es sie gleichzeitig verabscheute. Und er war wütend auf sie, weil sie starb, wütend auf sie, weil sie ihn allein auf dieser Welt zurückließ, allein mit der Gabe. Er war wütend und tief im Innern von Angst erfüllt, denn er sah in ihr seinen eigenen Untergang.
Nach dem Tod ihres Vaters war seine trauernde Mutter in eine Trance verfallen, aus der sie nicht wieder herauskam. Raistlin war hilflos gewesen. Er konnte nichts unternehmen, nur zusehen, wie sie dahinschwand. Verloren trieb sie auf magischen Ebenen, die nur sie sehen konnte. Und der Magier, ihr Sohn, war bis ins Mark erschüttert.
Er saß bei ihr an jenem letzten Abend. Er hielt ihre geschwächte Hand, beobachtete, wie ihre eingefallenen, fiebrigen Augen auf Wunder starrten, die von einer mißratenen Magie herbeigerufen worden waren.
In jener Nacht schwor Raistlin tief in seiner Seele, daß niemand und nichts jemals über die Macht verfügen würde, ihn so zu lenken – nicht sein Zwillingsbruder, nicht seine Schwester, nicht die Magie, nicht die Götter. Er und er ganz allein würde die führende Kraft in seinem Leben sein.