»Dich töten lassen«, murmelte Tolpan.
»Ach ja.« Caramons Ausdruck veränderte sich nicht. »Natürlich. Das ist also die Bedeutung der Zwergenbotschaft.«
»Er hat dich... dich den Dewaren überlassen«, erklärte Tolpan jämmerlich. »Sie wollten König Dunkan deinen Kopf bringen. Raistlin hat alle Ritter im Schloß weggeschickt. Er hat ihnen gesagt, daß du sie nach Thorbadin beordert habest. Zu den Dewaren sagte er, du habest hier nur deine Leibwächter.«
Caramon schwieg. Er fühlte nichts – weder Schmerz noch Zorn oder Überraschung. Er war leer. Dann strömte eine gigantische Welle der Sehnsucht nach seinem Zuhause, nach Tika, nach seinen Freunden, nach Tanis, nach Laurana, nach Flußwind und Goldmond über ihn herein und füllte die riesige Leere.
Als ob Tolpan Caramons Gedanken gelesen hätte, legte er seinen Kopf an Caramons Schulter. »Können wir jetzt in unsere Zeit zurückkehren?« fragte er und sah zu Caramon auf. »Ich bin schrecklich müde. Sag mal, glaubst du, ich könnte einige Zeit bei dir und Tika bleiben? Nur so lange, bis es mir besser geht. Ich würde euch nicht zur Last fallen – ich verspreche es...«
Caramon legte den Arm um den Kender und drückte ihn an sich. »Solange du möchtest, Tolpan«, sagte er. Traurig lächelnd starrte er in die Flammen. »Ich werde das Haus fertigstellen. Es wird nur ein paar Monate dauern. Dann werden wir Tanis und Laurana besuchen. Das habe ich Tika versprochen. Ich habe es ihr vor langer Zeit versprochen, aber ich bin nie dazu gekommen. Tika wollte immer schon Palanthas sehen, weißt du. Und vielleicht könnten wir alle Sturms Grab besuchen. Ich hatte niemals eine Gelegenheit, mich von ihm zu verabschieden.«
»Und wir können Elistan besuchen und... Crysania! Ich habe versucht, ihr von Raistlin zu erzählen, aber sie hat mir nicht geglaubt. Wir können sie nicht zurücklassen!« Tolpan sprang auf die Füße und rang verzweifelt die Hände. »Wir können nicht zulassen, daß er sie an diesen entsetzlichen Ort bringt!«
Caramon schüttelte den Kopf. »Wir werden versuchen, noch einmal mit ihr zu reden, Tolpan. Ich glaube nicht, daß sie zuhört, aber wir können es zumindest versuchen.« Er stemmte sich hoch. »Sie werden jetzt am Portal sein. Raistlin kann nicht länger warten. Die Festung wird den Bergzwergen bald in die Hände fallen. – Garik«, sagte er und hinkte zu dem Ritter. »Wie geht es dir?«
Einer der anderen Ritter hatte Gariks gebrochenen Arm gerichtet.
»Mir geht es gut, Herr«, antwortete Garik schwach. »Mach dir keine Sorgen.«
Lächelnd zog Caramon einen Stuhl zu ihm heran. »Kannst du reisen?«
»Natürlich, Herr.«
»Gut. Es bleibt dir auch keine andere Wahl. Dieser Ort wird bald eingenommen sein. Ihr müßt versuchen, hier herauszukommen.« Caramon rieb sich das Kinn. »Regar hat mir erzählt, daß unter den Ebenen Tunnel verlaufen, Tunnel, die von Pax Tarkas nach Thorbadin führen. Mein Rat ist, sie zu suchen. Es sollte nicht schwierig sein, sie zu finden. Diese Erdwälle draußen führen zu ihnen hinab. Ihr solltet die Tunnel auf alle Fälle benutzen, um sicher herauszukommen.«
Garik sagte ruhig: »Du sagst ›mein Rat‹, Herr. Was ist mit dir? Kommst du nicht mit uns?«
Caramon räusperte sich und wollte antworten, aber er brachte keinen Ton heraus. Er starrte auf seine Füße. Vor diesem Augenblick hatte er sich gefürchtet, und jetzt, da es soweit war, war die Rede, die er sorgfältig vorbereitet hatte, geradezu aus seinem Kopf geblasen. »Nein, Garik«, sagte er schließlich. »Ich komme nicht mit. Ich bin geschlagen, aber der Kender und ich haben einen magischen Weg nach Hause.«
Garik sah von einem zum anderen. »Doch nicht dein Bruder!« sagte er und runzelte düster die Stirn.
»Nein«, antwortete Caramon, »nicht mein Bruder. Hier trennen sich seine und meine Wege. Er hat sein eigenes Leben zu leben, und ich – endlich erkenne ich es – habe mein Leben.« Er legte die Hand auf Gariks Schulter. »Geh nach Pax Tarkas. Michael und du solltet alles unternehmen, was in eurer Macht liegt, um den Leuten dort zu helfen.«
»Aber...«
»Das ist ein Befehl, Herr Ritter«, unterbrach ihn Caramon barsch.
»Ja, Herr.« Garik wandte sein Gesicht ab, seine Hand strich schnell über seine Augen.
»Paladin sei mit dir, Garik«, sagte Caramon und umarmte Garik. Er blickte auch die anderen an. »Möge er mit euch allen sein.«
Garik sah erstaunt zu ihm hoch. »Paladin?« fragte er bitter. »Der Gott, der uns verlassen hat?«
»Verlier deinen Glauben nicht, Garik«, mahnte Caramon und erhob sich mit einer schmerzlichen Grimasse. »Wenn du an diesen Gott nicht glauben kannst, lege dein Vertrauen in dein Herz. Höre auf die Stimme, die sich über den Ehrbegriff erhebt.«
»Ja, Herr«, murmelte Garik. »Und mögen die Götter, an die du glaubst, bei dir sein.«
»Ich glaube, sie sind es schon mein ganzes Leben lang«, sagte Caramon und lächelte trübselig. »Ich war einfach zu dickköpfig, um sie zu hören. Aber jetzt solltet ihr lieber verschwinden.« Er verabschiedete sich einzeln von den anderen jungen Rittern.
Vorsichtig öffneten die Ritter die Tür und spähten in den Korridor. Abgesehen von den Leichen war er leer. Die Dewaren waren verschwunden. Aber Caramon hatte keinen Zweifel, daß diese Stille nur so lange anhalten würde, bis sie sich wieder formiert hatten. Vielleicht warteten sie auf Verstärkung.
Als die Ritter verschwunden waren, gingen Tolpan und Caramon in die andere Richtung. Zuvor zog Tolpan sein Messer aus Argats Leiche.
»Du hast einmal gesagt, mit diesem Messer könnte man höchstens Hasen töten«, sagte Tolpan stolz und wischte das Blut von der Klinge des Messers, bevor er es in seinen Gürtel steckte.
»Erwähne nie mehr Hasen«, sagte Caramon mit so merkwürdiger Stimme, daß Tolpan ganz verwundert war.
16
Das war sein Augenblick. Der Augenblick, für den er geboren war. Der Augenblick, für den er sein ganzes Leben lang Schmerz, Erniedrigung und Qualen erduldet hatte. Der Augenblick, für den er studiert, gekämpft, geopfert und getötet hatte.
Er genoß ihn, ließ die Kraft über und durch sich fließen, ließ sich von ihr umgeben und emporheben. Nichts auf dieser Welt existierte für ihn in diesem Augenblick – außer dem Portal und der Magie.
Aber auch während er diesen Augenblick genoß und frohlockte, war sein Geist aufmerksam auf seine Arbeit gerichtet. Seine Augen musterten das Portal und studierten jede Einzelheit – obwohl das eigentlich unnötig war. Er hatte es unzählige Male in Träumen sowie im Wachzustand gesehen. Die Zaubersprüche zum Öffnen waren simpel. Die fünf Drachenköpfe, die das Portal bewachten, mußten hintereinander mit dem richtigen Satz besänftigt werden. Aber wenn das vollbracht war und die weißgekleidete Klerikerin Paladin ermahnt hatte, Fürbitte einzulegen und das Portal offen zu halten, würden sie eintreten können. Es würde sich hinter ihnen schließen, und er würde seiner größten Herausforderung gegenüberstehen.
Der Gedanke erregte ihn. Sein schnell schlagendes Herz ließ das Blut in seinen Schläfen pochen. Er blickte Crysania an und nickte ihr zu.
Die Zeit war gekommen.
Die Klerikerin, deren Augen im Glanz der Ekstase schimmerten, nahm ihren Platz im Portal gegenüber Raistlin ein. Dieser Schritt machte unerschütterliches Vertrauen auf ihn erforderlich. Denn eine falsch gesprochene Silbe, ein zu unpassender Zeit geschöpfter Atem, das leichteste Entgleiten der Zunge oder eine geringfügige Handbewegung würde sich für beide als tödlich erweisen.
Crysania trat in das Portal und lächelte Raistlin an, den sie zum letzten Mal auf dieser Welt sehen sollte. Er lächelte zurück, während sich gleichzeitig die Worte des ersten Zaubers in seinem Geist bildeten.
Crysania hob die Arme. Ihre Augen starrten jetzt über Raistlin hinweg, in die herrlichen, wunderschönen Reiche, in denen ihr Gott lebte.
Sie hatte die letzten Worte des Königspriesters gehört, sie wußte, welchen Fehler er begangen hatte – den Fehler des Stolzes, von den Göttern zu verlangen, was er in Demut hätte erbitten sollen.