Caramons Blick richtete sich auf das Portal, dann auf Crysania; er war von Entsetzen und Abscheu erfüllt. Und dennoch hielt er an seinem Bruder fest. Dennoch dachte er daran, ihn ein letztes Mal zu bitten. Dann spürte er, wie der magere Arm in seiner Hand eine scharfe, drehende Bewegung machte.
Etwas blitzte auf, eine schnelle Bewegung, und die glänzende Klinge eines silbernen Dolches drückte sich gegen seine Kehle.
»Laß mich los, mein Bruder«, sagte Raistlin.
Schnell und sauber schnitt das Messer durch die letzte seelische Verbindung der Zwillinge. Caramon zuckte bei dem plötzlichen, stechenden Schmerz in seinem Herzen leicht zusammen. Aber der Schmerz währte nicht lange. Das Band war durchgetrennt.
Caramon ließ den Arm seines Bruders los. Er wandte sich um und wollte zu Tolpan zurückhinken, der sich immer noch hinter der Säule versteckt hielt.
»Ein letzter warnender Hinweis, mein Bruder«, sagte Raistlin kalt und steckte den Dolch wieder in den Riemen an seinem Handgelenk.
Caramon antwortete nicht, er blieb auch nicht stehen oder drehte sich um.
»Sei vorsichtig mit dem magischen Zeitgerät«, fuhr Raistlin fort. »Ihre Dunkle Majestät hat es repariert. Sie war es, die den Kender zurückschickte. Wenn du es benutzt, könntet ihr euch an einem höchst unangenehmen Ort wiederfinden!«
»Nein, sie hat es nicht repariert!« schrie Tolpan, der hinter der Säule hervorsprang. »Gnimsch hat es getan! Gnimsch hat es repariert! Gnimsch, mein freund. Der Gnom, den du umgebracht hast. Ich...«
»Dann benutz es, Caramon«, erwiderte Raistlin kühl. »Bring ihn und dich von hier fort! Aber vergiß nicht, daß ich dich gewarnt habe.«
Caramon ergriff den zornigen Kender. »Beruhige dich, Tolpan. Es spielt jetzt keine Rolle mehr.« Er drehte sich um, strich besänftigend über Tolpans Haarzopf und sagte: »Komm, Tolpan. Laß uns nach Hause gehen. Leb wohl, mein Bruder.«
Raistlin hörte es nicht. Sein Blick war wieder auf das Portal gerichtet, und er war wieder in seine Magie vertieft. Als er jedoch zum dritten Zauberspruch ansetzte, sah er aus dem Augenwinkel, wie sein Bruder den Anhänger von Tolpan nahm und sich anschickte, ihn in ein magisches Zeitreisegerät zu verwandeln.
Laß sie gehen. Die bin ich los, dachte Raistlin. Endlich bin ich von diesem großen Idioten befreit! Er blickte wieder zum Portal und lächelte. Ein kreisförmiges goldenes Licht, wie der Strahl der Sonne auf Schnee, umgab Crysania. Das Gebot des Erzmagiers an den Weißen Drachen war also erhört worden.
Raistlin hob die Hand, blickte den Drachenkopf im unteren linken Teil des Portals an und sprach seinen Zauber. »Roter Drache, von Dunkelheit zu Dunkelheit rufe ich: Unter meinen Füßen ist alles fest.«
Rote Linien schossen aus Crysanias Körper durch das weiße Licht und durch die schwarze Aura. Rot und brennend wie Blut überbrückten sie die Kluft von Raistlin zum Portal – eine Brücke ins Jenseits.
Raistlin hob die Stimme. Er wandte sich zur Rechten und rief den vierten Drachen an. »Blauer Drache. Zeit, die fließt, halte in deinem Lauf an.«
Blaue Lichtstrahlen flossen über Crysania. Als ob sie in Wasser glitte, neigte sie den Kopf zurück; ihre Arme blieben ausgestreckt, ihre Roben trieben um sie in den wirbelnden Lichtblitzen, ihr Haar schwamm schwarz auf den Strömungen der Zeit. Raistlin spürte das Portal erbeben. Das magische Feld begann sich zu aktivieren und auf seine Befehle zu reagieren! Seine Seele erzitterte vor Freude, die Crysania mit ihm teilte. Ihre Augen leuchteten, ihre Lippen teilten sich zu einem Seufzer. Ihre Hände spreizten sich, und sie berührten das Portal, das sich öffnete.
Raistlin blieb der Atem in der Kehle stecken. Die Welle der Macht und Ekstase, die durch seinen Körper strömte, erstickte ihn fast. Er konnte jetzt durch das Portal sehen. Er konnte kurze Eindrücke von der dahinter liegenden Ebene erhaschen, die für Sterbliche verboten ist.
Von irgendwoher hörte er schwach die Stimme seines Bruders, der das magische Gerät aktivierte: »Deine Zeit gehört dir allein, auch wenn du quer durch sie reist... Ergreife fest den Anfang und das Ende... Das Schicksal wird über deinem Kopf sein...«
Nach Hause. Komm nach Hause...
Raistlin begann mit dem fünften Zauberspruch. »Grüner Drache, weil durch Schicksalsbestimmung selbst die Götter niedergeschlagen sind, weine du mit mir.« Seine Stimme schnappte über. Irgend etwas stimmte nicht! Das Pulsieren der Magie in seinem Körper verlangsamte sich, wurde träge. Er stotterte die letzten Worte heraus, aber jeder Atemzug war eine Anstrengung. Sein Herz hörte einen Augenblick zu schlagen auf, dann setzte es seine Tätigkeit mit einem Sprung fort.
Verwirrt starrte Raistlin auf das Portal. Hatte der letzte Zauber funktioniert? Nein! Das Licht um Crysania begann zu schwanken. Das Feld verschob sich!
Verzweifelt schrie Raistlin die Worte des letzten Zaubers noch einmal. Aber er spürte, wie die Magie ihm entglitt.
Komm nach Hause...
Die Stimme seiner Königin war lachend und höhnend, die Stimme seines Bruders flehend, voller Kummer... Und dann eine andere Stimme, eine schrille Kenderstimme – jetzt raste sie wie ein blendendes Licht durch sein Gehirn: »Gnimsch hat es repariert... Der Gnom, mein Freund.«
Die Worte aus Astinus’ Chronik fielen ihm ein: »Im gleichen Augenblick aktivierte ein Gnom, der von den Zwergen von Thorbadin gefangengehalten wurde, ein Zeitreisegerät... Das Gerät des Gnoms wirkte auf die mächtigen Zaubersprüche, die von Fistandantilus gewebt wurden... Eine Explosion solchen Ausmaßes erfolgte, daß die Ebene von Dergod völlig zerstört wurde...«
Raistlin ballte vor Zorn die Fäuste. Der Mord an dem Gnom war zwecklos gewesen! Diese erbärmliche Kreatur hatte an dem Gerät vor ihrem Tod herumgepfuscht. Die Geschichte würde sich wiederholen! Fußstapfen im Sand...
Als Raistlin in das Portal blickte, sah er den Scharfrichter hervortreten. Er sah seine eigene Hand seine eigene schwarze Kapuze hochheben, er sah die blitzende Axt niedersausen; seine eigenen Hände führten sie!
Das magische Feld begann sich heftig zu verschieben. Die Drachenköpfe, die das Portal umgaben, kreischten im Triumph auf. Ein Krampf des Schmerzes und des Entsetzens verzerrte Crysanias Gesicht. Als Raistlin in ihre Augen sah, erkannte er den gleichen Blick, den er in den Augen seiner Mutter gesehen hatte, die blind in eine weit entfernte Ebene gestarrt harten.
Komm nach Hause...
Im Portal begannen die wirbelnden Lichter wie verrückt zu kreisen. Crysania schrie vor Schmerz auf. Ihr Fleisch begann in dem tödlichen Feuer unbeherrschter Magie zu zerfallen.
Tränen liefen aus Raistlins Augen, als er in den wirbelnden Strudel starrte. Und dann sah er, wie sich das Portal schloß. Er schleuderte seinen magischen Stab auf den Boden und stieß einen bitteren, unzusammenhängenden Schrei aus.