Statt dessen sah er einen jungen Mann Wache stehen und Crysania, die vor dem verschlossenen Zelt hin und her schritt. Caramon starrte den jungen Mann neugierig an; er glaubte ihn wiederzuerkennen. »Gariks Vetter«, sagte er zögernd und versuchte sich an den Namen zu erinnern. »Michael, nicht wahr?«
»Ja, General«, antwortete der junge Ritter. Er richtete sich auf und versuchte zu grüßen. Aber es war ein kläglicher Versuch. Das Gesicht des jungen Mannes war blaß und verhärmt, seine Augen rotgerändert. Er war kurz davor, vor Erschöpfung umzufallen, aber er hielt seinen Speer vor sich, blockierte grimmig den Weg zum Zelt.
Als Crysania Caramons Stimme hörte, sah sie auf. »Paladin sei Dank!« rief sie leidenschaftlich.
Ein Blick auf ihr blasses Gesicht genügte, um Caramon erzittern zu lassen.
»Vertreibt sie von hier!« befahl er dem Hauptmann, der sofort seinen Männern entsprechende Anweisungen gab. Mit Murren löste sich die Menge auf; die meisten glaubten, daß das Aufregendste sowieso schon vorbei wäre.
»Caramon, hör mir zu!« Crysania legte ihre Hand auf seinen Arm. »Das...«
Aber Caramon schüttelte sie ab. Ihre Erklärungsversuche ignorierend, wollte er sich an Michael vorbeischieben. Der junge Ritter hob seinen Speer und versperrte ihm den Weg.
»Geh mir aus dem Weg!« befahl Caramon verblüfft.
»Es tut mir leid, Herr«, erklärte Michael mit fester Stimme, obgleich seine Lippen bebten, »aber Fistandantilus hat mir aufgetragen, daß niemand vorbeigehen darf.«
»Versteh mich«, sagte Crysania aufgebracht, als Caramon einen Schritt zurücktrat und Michael in sprachlosem Zorn anstarrte. »Ich habe versucht, dir das zu sagen, wenn du nur zuhören würdest! Das geht jetzt schon die ganze Nacht so, und ich weiß, daß im Zelt etwas Schreckliches passiert! Aber Raistlin ließ ihn einen Schwur leisten... O Caramon, ich hatte solche Angst!« murmelte sie. »Es war furchtbar. Ich bin aus tiefem Schlaf wach geworden, als ich Raistlin meinen Namen schreien hörte. Ich lief hierher... In dem Zelt blitzten Lichter auf. Er kreischte unzusammenhängende Worte, dann rief er deinen Namen... und dann begann er verzweifelt zu stöhnen. Ich wollte hineingehen, aber...« Sie machte eine schwache Handbewegung zu Michael, der jedoch geradeaus starrte. »Und dann begann seine Stimme zu... zu verblassen! Es war schrecklich, als ob sie irgendwie weggesaugt werden würde!«
»Und was geschah dann?«
Crysania hielt inne. Dann erzählte sie zögernd weiter. »Er... er sagte etwas anderes. Ich konnte es kaum verstehen. Es wurde auf einmal dunkel. Dann hörte man einen durchdringenden Krach, und... und alles war ganz still, entsetzlich still!«
»Was hat er gesagt? Konntest du es verstehen?«
»Das ist eben das Seltsame.« Crysania hob den Kopf und sah ihn verwirrt an. »Es klang wie... Bupu.«
»Bupu?« wiederholte Caramon erstaunt. »Bist du dir sicher?«
Sie nickte.
»Warum sollte er den Namen einer Gossenzwergin rufen?« wollte Caramon wissen.
»Ich habe keine Ahnung.« Crysania seufzte erschöpft und strich ihr Haar zurück. »Ich habe mich das Gleiche gefragt. Aber... war das nicht die Gossenzwergin, die Par-Salian erzählt hat, wie nett und freundlich Raistlin zu ihr gewesen ist?«
Caramon schüttelte den Kopf. Er würde sich später Gedanken über Gossenzwerge machen. Seine unmittelbare Sorge galt Michael. Lebhafte Erinnerungen an Sturm kamen ihm in den Sinn. Wie viele Male hatte er diesen Blick im Gesicht des Ritters gesehen?
Verdammter Raistlin!
Michael würde jetzt bis zum Umfallen an seinem Posten stehen und sich dann umbringen, wenn er aufwachte und erkannte, daß er versagt hatte. Es mußte einen Weg geben, dies zu umgehen. Caramon sah zu Crysania. Sie konnte ihre klerikalen Kräfte einsetzen, um den jungen Mann zu verzaubern...
Caramon schüttelte den Kopf. Dann wäre das ganze Lager schnell bei der Hand, sie auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen! Verdammter Raistlin! Verdammte Kleriker! Verdammte Ritter von Solamnia!
Er stieß einen Seufzer aus und ging zu Michael. Der junge Mann hielt ihm drohend seinen Speer entgegen, aber Caramon streckte lediglich seine Hände hoch, um zu zeigen, daß sie leer waren.
Er räusperte sich, wußte zwar, was er sagen wollte, aber nicht ganz, wie er anfangen sollte. Und als er dann an Sturm dachte, sah er plötzlich wieder das Gesicht des Ritters, so klar und deutlich, daß es ihn verblüffte. Aber es war nicht das Gesicht, wie er es in seinem Leben gehabt hatte – streng, ehrenhaft, kalt. Und dann wußte Caramon es – er sah Sturms Gesicht im Tod! Zeichen schrecklichen Leidens und Schmerzes hatten die rauhen Linien des Stolzes und der Unbeweglichkeit geglättet. In den dunklen, gehetzten Augen lagen Mitgefühl und Verständnis, und – so schien es Caramon – der Ritter lächelte ihn traurig an.
Einen Augenblick war Caramon über diese Vision dermaßen verwirrt, daß es ihm die Sprache verschlug und er nur noch große Augen machen konnte. Aber das Bild verschwand, ließ an seiner Stelle das Gesicht des jungen Ritters zurück, grimmig, verängstigt, erschöpft – entschlossen...
»Michael«, sagte Caramon mit immer noch erhobenen Händen, »ich hatte einst einen Freund, einen Ritter von Solamnia. Er... er ist jetzt tot. Er starb in einem Krieg, weit von hier entfernt, als... Aber das spielt jetzt keine Rolle. Stur... mein Freund war genauso wie du. Er glaubte an die Ehre. Er war bereit, sein Leben dafür zu geben. Aber am Ende fand er heraus, daß es noch etwas Wichtigeres gibt.«
Michaels Gesicht verhärtete sich dickköpfig. Er umklammerte seinen Speer noch fester.
»Das Leben«, sagte Caramon leise.
Er sah ein Flackern in den rotgeränderten Augen des Ritters, ein Flackern, das von einem Tränenschimmer überflutet wurde. Wütend blinzelte Michael die Tränen weg, der Ausdruck fester Entschlossenheit kehrte zurück, obgleich Caramon den Eindruck hatte, daß er nun mit einem Ausdruck der Verzweiflung vermischt war.
Caramon trieb seine Worte in sein Herz, als ob sie die Spitze eines Schwertes wären, das das Herz des Feindes sucht. »Das Leben, Michael. Das ist alles, was da ist. Das ist alles, was wir haben.« Langsam, immer noch mit erhobenen Händen tat er einen Schritt auf den jungen Mann zu. »Ich bitte dich nicht, deinen Posten zu verlassen. Wir beide wissen, daß du ihn nicht aus Feigheit verläßt.« Caramon schüttelte den Kopf. »Die Götter wissen, was du in dieser Nacht gesehen und gehört hast. Ich bitte dich, deinen Posten aus Mitgefühl zu verlassen. Mein Bruder ist im Zelt, vielleicht liegt er im Sterben, vielleicht ist er schon tot. Als er dich den Eid schwören ließ, hatte er das nicht voraussehen können. Ich muß zu ihm gehen. Laß mich vorbei, Michael. Daran ist nichts Unehrenhaftes.«
Michael stand steif da, seine Augen geradeaus gerichtet. Und dann fiel sein Gesicht zusammen. Seine Schultern sackten ein, und der Speer fiel aus seiner kraftlosen Hand. Caramon fing den jungen Mann in seinen Armen auf und hielt ihn fest. Ein Schluchzen ging durch den Körper des jungen Mannes.
Caramon klopfte ihm unbeholfen auf die Schulter. »He, einer von euch«, er sah sich um, »soll Garik suchen... Ah, da bist du ja«, sagte er erleichtert, als er den jungen Ritter herbeikommen sah. »Bring deinen Vetter zum Feuer. Gib ihm etwas Warmes zu essen und kümmere dich darum, daß er schläft. Du«, er zeigte auf einen anderen Wächter, »übernimmst seinen Posten.«
Als Garik seinen Vetter fortführte, wollte Crysania das Zelt betreten, aber Caramon hielt sie zurück. »Ich gehe zuerst«, sagte er. Einen Einwand erwartend, war er überrascht, daß sie unterwürfig zur Seite trat. Caramons Hand lag an dem Zeltvorhang, als er ihre Hand auf seinem Arm spürte. Verblüfft drehte er sich um.
»Du bist genauso klug wie Elistan, Caramon«, sagte sie und musterte ihn aufmerksam. »Ich hätte dem jungen Mann die gleichen Worte sagen können. Warum habe ich das nicht?«
Caramon errötete. »Ich... ich habe ihn einfach verstanden, das ist alles«, brummte er.
»Ich wollte ihn nicht verstehen.« Crysania biß sich auf die Lippen. »Ich wollte nur, daß er mir gehorcht.«