Die Lage hatte sich verändert. Grau kümmerte sich nicht mehr um die Einnahmen aus der Werkstatt und schon gar nicht um die anderen Dinge, die mit ihr zusammenhingen. Trotzdem war sie unverzichtbar für ihn, denn dem Betrieb verdankte er seine Ämter als Zunftmeister, Ratsherr von Barcelona und Mitglied des Rats der Hundert. Doch nachdem er diese Bedingung erfüllt hatte, war Grau Puig ganz in die Politik und die Hochfinanz eingestiegen, was für einen Ratsherrn der gräflichen Stadt nicht sonderlich schwer war, und hatte seinem Gesellen Jaume die Verwaltung der Werkstatt überlassen.
Seit dem Beginn seiner Herrschaft im Jahr 1291 hatte Jaime II. versucht, sich gegen die Oligarchie der Feudalherren Kataloniens durchzusetzen, und dazu die Hilfe der freien Städte und ihrer Bürger gesucht, angefangen mit Barcelona. Sizilien war bereits seit den Zeiten Pedros des Großen im Besitz der Krone; als der Papst nun Jaime II. das Recht auf die Eroberung Sardiniens zugestand, finanzierten Barcelona und seine Bürger dieses Unternehmen.
Die Annexion der beiden Mittelmeerinseln durch die Krone war im Interesse aller Parteien: Sie garantierte die Getreideversorgung Kataloniens ebenso wie die katalanische Vorherrschaft im westlichen Mittelmeer und damit die Kontrolle über die Handelsrouten zu Wasser. Die Krone wiederum behielt sich die Ausbeutung der Silberminen und Salinen der Inseln vor.
Grau hatte diese Ereignisse nicht selbst miterlebt. Seine Gelegenheit kam mit dem Tod Jaimes II. und der Thronbesteigung Alfons' III. In diesem Jahr, 1329, erhoben sich die Sarden in der Stadt Sassari. Zur gleichen Zeit erklärten die Genuesen Katalonien den Krieg, weil sie dessen Handelsmacht fürchteten, und griffen die Schiffe an, die unter der Flagge des Prinzipats fuhren. Weder der König noch die Händler zweifelten auch nur einen Moment daran, dass der Feldzug zur Unterdrückung des Aufstands auf Sardinien und der Krieg gegen Genua von der Bürgerschaft Barcelonas finanziert werden musste. Und so geschah es, hauptsächlich angetrieben von einem Ratsherren der Stadt: Grau Puig, der großzügig seinen Beitrag zu den Kriegskosten leistete und mit flammenden Reden auch die Zögerer davon überzeugte, sich zu beteiligen. Der König selbst hatte ihm öffentlich für seine Hilfe gedankt.
Während Grau immer wieder an die Fenster trat, um Ausschau nach seinen Gästen zu halten, verabschiedete sich Bernat mit einem Kuss auf die Wange von seinem Sohn.
»Es ist bitterkalt, Arnau. Besser, du gehst hinein.« Der Junge wollte widersprechen. »Heute werdet ihr ein feines Essen bekommen, nicht wahr?«
»Hähnchen, Nougat und Waffeln«, antwortete sein Sohn beiläufig.
Bernat gab ihm einen zärtlichen Klaps auf den Hintern.
»Lauf ins Haus. Wir sprechen ein andermal weiter.«
Arnau kam gerade rechtzeitig zum Essen. Er selbst sowie die beiden jüngeren von Graus Kindern – Guiamon, der so alt war wie er, und die anderthalb Jahre ältere Margarida – würden in der Küche essen, die beiden Älteren – Josep und Genis – oben mit den Eltern.
Das Eintreffen der Gäste machte Grau noch nervöser.
»Ich mache das schon alles«, hatte er zu Guiamona gesagt, als er die Feier vorbereitete. »Du brauchst dich nur um die Frauen zu kümmern.«
»Aber wie willst denn du …?«, hatte Guiamona protestiert, doch Grau war bereits dabei gewesen, der Köchin Estranya, einer korpulenten, störrischen Mulattensklavin, Anweisungen zu geben. Diese blickte verstohlen zu ihrer Herrin hinüber, während sie den Ausführungen des Hausherrn lauschte.
Hinter dem Rücken ihres Mannes hatte Guiamona versucht, Ordnung in die Dienerschaft zu bringen und alles vorzubereiten, damit das Weihnachtsfest ein Erfolg wurde. Doch am Tag der Feier kümmerte sich Grau um alles, sogar um die kostbaren Umhänge seiner Gäste, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als sich im Hintergrund zu halten, wie es ihr Mann bestimmt hatte, und den Frauen zuzulächeln, die sie von oben herab ansahen. Unterdessen plauderte Grau mit diesem oder jenem, während er gleichzeitig den Sklaven Zeichen gab, was sie zu tun hatten und um wen sie sich kümmern sollten. Doch je wilder er gestikulierte, desto kopfloser wurden sie. Schließlich beschlossen sämtliche Sklaven – mit Ausnahme von Estranya, die in der Küche das Essen vorbereitete –, Grau durchs ganze Haus zu folgen, um seine dringlichen Befehle entgegenzunehmen.
Von jeder Aufsicht befreit – denn Estranya und ihre Hilfen hantierten mit dem Rücken zu ihnen an ihren Töpfen und Herdfeuern –, vermatschten Margarida, Guiamon und Arnau das Hähnchen mit dem Nougat und den Waffeln und tauschten Häppchen aus, wobei sie unaufhörlich herumalberten. Irgendwann griff Margarida nach einem Krug mit unverdünntem Wein und nahm einen kräftigen Schluck. Das Mädchen verzog das Gesicht und machte dicke Backen, doch es brachte die Mutprobe hinter sich, ohne den Wein auszuspucken. Dann drängte sie ihren Bruder und ihren Cousin, es ihr nachzutun. Arnau und Guiamon tranken. Sie gaben sich Mühe, gleichfalls Haltung zu bewahren wie Margarida, doch sie mussten husten und tasteten den Tisch nach Wasser ab, während ihnen die Tränen in die Augen schossen. Dann begannen die drei zu lachen.
»Raus hier!«, rief die Sklavin, nachdem sie die Albernheiten der Kinder eine Zeit lang über sich hatte ergehen lassen.
Die drei liefen johlend und lachend aus der Küche.
»Pssst!«, ermahnte sie einer der Sklaven, der an der Treppe stand. »Der Herr will keine Kinder hier sehen.«
»Aber …«, begann Margarida.
»Da gibt es kein Aber«, erklärte der Sklave.
In diesem Moment kam Habiba die Treppe hinunter, um neuen Wein zu holen. Der Herr hatte sie mit zornfunkelnden Augen angeschaut, weil einer seiner Gäste sich nachschenken wollte und nur ein paar armselige Tropfen gekommen waren.
»Hab ein Auge auf die Kinder«, sagte Habiba zu dem Sklaven an der Treppe, als sie an ihm vorbeiging. »Ich brauche Wein!«, rief sie dann Estranya zu, noch bevor sie die Küche betrat.
Grau, der befürchtete, dass die Maurin den einfachen Wein brachte statt den, den sie servieren sollte, kam hinter ihr hergerannt.
Die Kinder lachten nicht mehr. Am Fuß der Treppe stehend, beobachteten sie das hektische Treiben, zu dem sich plötzlich auch Grau gesellte.
»Was habt ihr hier zu suchen?«, fuhr er sie an, als er sie bei dem Sklaven stehen sah. »Und du? Was stehst du hier herum? Geh und sag Habiba, dass es der Wein aus den alten Karaffen sein soll. Merk dir das! Wenn du dich irrst, ziehe ich dir bei lebendigem Leib das Fell über die Ohren. Und ihr, Kinder, ab ins Bett!«
Der Sklave rannte wie angestochen in die Küche. Die Kinder sahen sich grinsend an, ihre Augen funkelten vom Wein. Als Grau die Treppe wieder hochrannte, begannen sie zu lachen. Ins Bett? Margarida sah zur Haustür, die weit offen stand, zog die Lippen kraus und hob die Augenbrauen.
»Und die Kinder?«, fragte Habiba, als sie den Sklaven kommen sah.
»Wein aus den alten Krügen«, gab dieser weiter.
»Und die Kinder?«
»Aus den alten Krügen. Den alten.«
»Und die Kinder?«, fragte Habiba noch einmal.
»Der Herr hat gesagt, geht ins Bett. Sie sind bei ihm. Den aus den alten Krügen, ja? Er zieht uns das Fell über die Ohren …«
Es war Weihnachten, und Barcelona würde wie ausgestorben sein, bis die Leute zur Christmette strömten, um einen Hahn darzubringen. Der Mond spiegelte sich im Meer, so als würde die Straße, in der sie sich befanden, bis zum Horizont reichen. Die drei Kinder betrachteten den silbernen Streif auf dem Wasser.
»Heute wird niemand am Strand sein«, wisperte Margarida.