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»Niemand fährt an Weihnachten aufs Meer hinaus«, setzte Guiamon hinzu.

Die beiden wandten sich zu Arnau um, der den Kopf schüttelte.

»Niemand wird es merken«, behauptete Margarida. »Wir gehen kurz hin und sind gleich wieder zurück. Es sind nur ein paar Schritte.«

»Feigling«, warf ihm Guiamon vor, als er zögerte.

Sie liefen bis Framenors, dem Franziskanerkonvent am östlichen Ende der Stadtmauer, direkt am Meer. Von dort blickten sie über den Strand, der sich bis zum Kloster Santa Clara am westlichen Ende von Barcelona erstreckte.

»He, seht doch!«, rief Guiamon. »Die Flotte der Stadt!«

»So habe ich den Strand noch nie gesehen«, erklärte Margarida.

Arnau nickte mit großen Augen.

Von Framenors bis Santa Clara war der Strand mit Schiffen in allen Größen übersät. Kein Gebäude stand diesem herrlichen Anblick im Wege. Vor etwa hundert Jahren hatte König Jaime der Eroberer verboten, den Strand zu bebauen. Dies hatte Grau seinen Kindern einmal erzählt, als sie ihn zusammen mit ihrem Lehrer zum Hafen begleiteten, um zuzusehen, wie ein Schiff be- oder entladen wurde, dessen Miteigner er war. Der Strand musste frei bleiben, damit die Seeleute ihre Schiffe an Land ziehen konnten. Aber keines der Kinder hatte Graus Erklärung die geringste Beachtung geschenkt. Es war doch selbstverständlich, dass die Schiffe am Strand lagen. Sie waren schon immer dort gewesen.

»In den Häfen unserer Feinde und Handelsrivalen«, hatte der Lehrer erklärt, »werden die Schiffe nicht auf den Strand gezogen.«

»Das stimmt«, hatte Grau bestätigt. »Genua, unsere Feindin, hat einen wunderbaren geschützten, natürlichen Hafen, sodass die Schiffe nicht an Land gezogen werden müssen. Venedig, unsere Verbündete, besitzt eine große Lagune, die man durch enge Kanäle erreicht. Sie ist vor Stürmen gefeit und die Schiffe können ruhig vor Anker gehen. Der Hafen von Pisa ist durch den Arno mit dem Meer verbunden, und auch Marseille nennt einen natürlichen Hafen sein Eigen, geschützt vor den Unbilden der See.«

»Bereits die Griechen aus Phokis nutzten den Hafen von Marseille«, ergänzte der Lehrer.

»Unsere Feinde haben bessere Häfen?«, fragte Josep, der Älteste. »Aber wir haben sie besiegt! Wir sind die Herren des Mittelmeers!«, rief er und wiederholte die Worte, die er so oft aus dem Mund seines Vaters gehört hatte. Die Übrigen pflichteten ihm bei. »Wie ist das möglich?«

Grau sah den Lehrer fragend an, auf der Suche nach einer Erklärung.

»Barcelona hat stets die besten Seefahrer gehabt. Nun besitzen wir keinen Hafen mehr, und doch …«

»Wieso haben wir keinen Hafen?«, brach es aus Genis hervor. Er deutete auf den Strand. »Und das hier?«

»Das ist kein Hafen. Ein Hafen muss ein vor der See geschützter Ort sein, und was du da meinst …« Der Lehrer wies mit der Hand aufs offene Meer hinaus, das an den Strand schlug. »Barcelona ist immer eine Seefahrerstadt gewesen. Früher, vor vielen Jahren, hatten auch wir einen Hafen, wie all diese Städte, die euer Vater erwähnte. Zu Zeiten der Römer ankerten die Schiffe im Schutz des Mons Taber, ungefähr dort.« Er deutete in Richtung der Stadt. »Doch das Meer ist nach und nach verlandet, und der Hafen verschwand. Danach hatten wir den Hafen Comtal, der ebenfalls verschwand, und zuletzt den Hafen Jaimes I. im Schutz einer kleinen natürlichen Bucht, dem Puig de les Falsies. Wisst ihr, wo sich dieser Puig de les Falsies heute befindet?«

Die vier Kinder blickten sich fragend an und sahen dann Hilfe suchend zu Grau, der mit verschwörerischer Miene, so als sollte der Lehrer es nicht sehen, auf den Boden zu ihren Füßen deutete.

»Hier?«, fragten die Kinder wie aus einem Munde.

»Ja«, antwortete der Lehrer, »wir stehen darauf. Auch er verlandete, und Barcelona blieb ohne Hafen zurück. Doch damals waren wir bereits Seefahrer – die besten, und das sind wir immer noch. Auch ohne Hafen.«

»Wozu braucht man dann einen Hafen?«, warf Margarida ein.

»Das kann dir dein Vater besser erklären«, antwortete der Lehrer, und Grau nickte.

»Ein Hafen ist wichtig, Margarida, sehr wichtig. Siehst du das Schiff dort?« Er deutete auf eine Galeere, die von kleinen Booten umgeben war. »Wenn wir einen Hafen hätten, könnte es seine Ladung an der Mole löschen, ohne all diese Boote, die die Ware aufnehmen. Wenn jetzt ein Sturm aufkäme, befände es sich außerdem in großer Gefahr, da es sehr nahe am Ufer vor Anker liegt. Es müsste Barcelona verlassen.«

»Warum?«, wollte das Mädchen wissen.

»Weil es hier nicht beidrehen kann und auf Grund laufen könnte. Es ist sogar im Seegesetzbuch Barcelonas vorgeschrieben, dass ein Schiff im Falle eines Unwetters Schutz in den Häfen von Salou oder Tarragona suchen muss.«

»Wir haben keinen Hafen«, beklagte sich Guiamon, als hätte man ihm etwas Wichtiges weggenommen.

»Nein«, bestätigte Grau lachend und legte den Arm um ihn, »aber wir sind immer noch die besten Seefahrer, Guiamon. Wir sind die Herren des Mittelmeers! Und wir haben den Strand. Hier landen wir unsere Schiffe an, wenn die schifffahrtsfreie Jahreszeit gekommen ist, hier reparieren und bauen wir sie. Siehst du die Werft dort drüben? Sie liegt am Strand, gegenüber den Arkaden …«

»Dürfen wir mal auf die Schiffe?«, fragte Guiamon.

»Nein«, hatte sein Vater ernst geantwortet. »Die Schiffe sind heilig, mein Junge.«

Arnau war nie mit Grau und seinen Kindern aus dem Haus gegangen, und schon gar nicht mit Guiamona. Er war immer bei Habiba zu Hause geblieben. Aber wenn seine Cousins zurückkamen, hatten sie ihm alles erzählt, was sie gesehen und gehört hatten. Auch das mit den Schiffen hatten sie ihm erklärt.

Und da lagen sie nun alle in dieser Weihnachtsnacht. Da waren die kleinen Feluken, Jollen und Barkassen, die mittelgroßen Koggen, Brigantinen und Galeoten, sogar eine große bauchige Nao. Außerdem zahlreiche Karavellen, Karacken und Galeeren, die trotz ihrer Größe auf königlichen Befehl zwischen Oktober und April ihre Fahrt einstellen mussten.

»Seht nur!«, rief Guiamon noch einmal.

Bei der Werft, gegenüber der Plaza Regomir, brannten mehrere Lagerfeuer, um die herum einige Wachen saßen. Von der Plaza Regomir bis zum Kloster Framenors lagen still die Schiffe am Strand, nur vom Mondlicht beschienen.

»Folgt mir, Matrosen!«, befahl Margarida, den rechten Arm erhoben.

Und so führte Kapitänin Margarida ihre Männer von einem Schiff zum anderen, durch Stürme, Piratenangriffe und Seeschlachten. Sie sprangen von Bord zu Bord, besiegten die Genuesen und die Mauren und eroberten unter Siegesrufen auf König Alfons Sardinien.

»Wer da?«

Die drei blieben wie angewurzelt auf einer Felucke stehen.

Margarida lugte über die Reling. Drei Fackeln wanderten zwischen den Schiffen umher.

»Lasst uns abhauen«, flüsterte Guiamon, der bäuchlings auf dem Deck lag, an den Rockzipfel seiner Schwester geklammert.

»Wir können nicht«, antwortete Margarida. »Sie schneiden uns den Weg ab …«

»Und die Werft?«, fragte Arnau.

Margarida sah zur Plaza Regomir herüber. Zwei weitere Fackeln hatten sich in Bewegung gesetzt.

»Geht auch nicht«, wisperte sie.

Die Schiffe sind heilig! Graus Worte hallten in den Köpfen der Kinder wider. Guiamon begann zu schluchzen. Margarida zischte ihn an, er solle still sein. Eine Wolke verdeckte den Mond.

»Ins Meer«, befahl die Kapitänin dann.

Sie sprangen über Bord und wateten ins Wasser. Margarida und Arnau duckten sich, Guiamon blieb aufrecht stehen. Gebannt starrten die drei auf die Fackeln, die sich zwischen den Schiffen bewegten. Als die Fackeln auf die Schiffe am Ufersaum zukamen, wateten die drei noch weiter hinaus. Margarida blickte zum Mond hinauf, während sie stumm betete, er möge noch länger verborgen bleiben.

Die Suche zog sich ewig hin, doch zum Meer sah niemand. Die Kinder warteten, ins Wasser gekauert, verängstigt. Und völlig durchnässt. Es war bitterkalt.

Auf dem Heimweg konnte Guiamon nicht mehr laufen. Er klapperte mit den Zähnen, seine Knie zitterten, und er hatte Krämpfe. Margarida und Arnau hakten ihn unter, und so legten sie die kurze Strecke zurück.