Bernat sah, wie der Geselle zum Haus hinüberging. Er hatte versucht, mit Guiamona zu sprechen, doch seine Schwester hatte ihn nicht empfangen. Seit Tagen hatte Arnau das Lager nicht mehr verlassen, auf dem sein Vater schlief. Er hockte den ganzen Tag auf Bernats Strohsack, den sie nun teilen mussten. Wenn sein Vater in den Raum kam, um nach ihm zu sehen, starrte er unablässig dorthin, wo sie versucht hatten, die Wunden der Maurin zu versorgen.
Nachdem Grau die Werkstatt verlassen hatte, hatten sie die Sklavin losgebunden, wobei sie gar nicht wussten, wo sie den Körper anfassen sollten. Estranya kam mit Öl und Salben in die Werkstatt geeilt, doch als sie die blutige Masse rohen Fleisches sah, schüttelte sie nur den Kopf. Arnau sah alles aus einiger Entfernung mit an, stumm, mit Tränen in den Augen. Bernat versuchte ihn hinauszuführen, doch der Junge weigerte sich. Habiba starb noch in derselben Nacht. Das einzige Zeichen, das ihren nahenden Tod ankündigte, war, dass die Maurin nicht mehr dieses unablässige Wimmern von sich gab, wie das eines Neugeborenen, das sie den ganzen Tag verfolgt hatte.
Grau hörte sich an, was sein Schwager ihm durch Jaume ausrichten ließ. Das war das Letzte, was er gebrauchen konnte: die beiden Estanyols mit ihren Muttermalen neben dem Auge, die auf der Suche nach Arbeit durch Barcelona liefen und jedem, der es hören wollte, von Grau erzählten … und das waren viele, jetzt, da er sich anschickte, den Gipfel der Macht zu erklimmen. Sein Magen revoltierte und er hatte einen trockenen Mund: Grau Puig, Ratsherr von Barcelona, Zunftmeister der Töpfer, Mitglied des Rats der Hundert, gewährt geflohenen Leibeigenen Zuflucht. Das durfte unter keinen Umständen herauskommen! Er wusste den Adel gegen sich. Je mehr Unterstützung Barcelona König Alfons gewährte, desto weniger war dieser von den Feudalherren abhängig und desto geringer fielen die Pfründen aus, die der Adel vom Monarchen zu erwarten hatte. Und wer hatte sich besonders für die Unterstützung des Königs eingesetzt? Er. Und wem schadete die Flucht der leibeigenen Bauern? Den Landadligen. Grau schüttelte den Kopf und seufzte. Verflucht die Stunde, in der er zugelassen hatte, dass dieser Bauer in seinem Haus unterkam!
»Er soll herkommen«, sagte er zu Jaume.
»Jaume hat mir gesagt, dass du uns verlassen willst«, sagte Grau, als sein Schwager vor ihm stand.
Bernat nickte.
»Und was gedenkst du zu tun?«
»Ich werde mir Arbeit suchen, um meinen Jungen zu versorgen.«
»Du hast keinen Beruf. Barcelona ist voll von Leuten wie dir: Bauern, die nicht von ihrem Land leben konnten, die Arbeit suchen und am Ende Hungers sterben. Außerdem«, setzte er hinzu, »bist du nicht einmal im Besitz des Bürgerbriefes, auch wenn du dich bereits lange genug in der Stadt aufhältst.«
»Was ist das, ein Bürgerbrief?«, fragte Bernat.
»Ein Dokument, das bescheinigt, dass du ein Jahr und einen Tag in Barcelona gelebt hast und deshalb ein freier Bürger bist, der keinem Herrn unterworfen ist.«
»Wo bekommt man dieses Dokument?«
»Das stellen die Ratsherren der Stadt aus.«
»Ich werde es verlangen.«
Grau musterte Bernat. Er war schmutzig, trug ein einfaches, zerschlissenes Hemd und Hanfschuhe. Grau stellte sich vor, wie sein Schwager vor den Ratsherren der Stadt stehen würde, nachdem er Dutzenden von Schreibern seine Geschichte erzählt hatte: der Schwager und der Neffe von Grau Puig, Ratsherr der Stadt, die dieser jahrelang in seiner Werkstatt versteckt hatte. Die Nachricht würde von Mund zu Mund gehen. Er selbst hatte oft genug Situationen wie diese ausgenutzt, um seine Gegner zu attackieren.
»Setz dich«, forderte er ihn auf. »Nachdem Jaume mir von deinen Absichten erzählt hat, habe ich mit Guiamona gesprochen.« Er log, um seinen Gesinnungswechsel zu erklären. »Und sie hat mich gebeten, mich gnädig zu zeigen.«
»Ich brauche keine Gnade«, unterbrach ihn Bernat. Er dachte an Arnau, wie er mit verlorenem Blick auf dem Strohsack kauerte. »Ich habe jahrelang hart gearbeitet, um …«
»So war die Abmachung«, fiel ihm Grau ins Wort, »und du hast sie akzeptiert. Damals war sie in deinem Interesse.«
»Mag sein«, gab Bernat zu, »aber ich habe mich nicht als Sklave verkauft, und jetzt ist sie nicht mehr in meinem Interesse.«
»Vergessen wir das mit der Gnade. Ich glaube nicht, dass du irgendwo in der Stadt Arbeit finden wirst, schon gar nicht, wenn du nicht nachweisen kannst, dass du ein freier Bürger bist. Ohne dieses Dokument wird man dich nur ausbeuten. Weißt du, wie viele unfreie Bauern hier herumlaufen, ohne Kinder am Bein, die bereit sind, umsonst zu arbeiten, nur um ein Jahr und einen Tag in Barcelona bleiben zu können? Du kannst nicht mit ihnen konkurrieren. Noch bevor du den Bürgerbrief erhalten hast, wirst du verhungert sein. Du oder dein Sohn. Und trotz allem, was vorgefallen ist, können wir nicht zulassen, dass den kleinen Arnau das gleiche Schicksal ereilt wie unseren Guiamon. Einer reicht. Deine Schwester würde es nicht ertragen.« Bernat wartete schweigend ab, dass sein Schwager weitersprach. »Wenn du willst, kannst du weiter hier arbeiten, zu denselben Bedingungen … und für einen Lohn, der dem eines ungelernten Arbeiters entspricht, abzüglich der Kosten für Kost und Logis für dich und deinen Sohn.«
»Und Arnau?«
»Was ist mit dem Jungen?«
»Du hast versprochen, ihn als Lehrling anzunehmen.«
»Und das werde ich auch tun … wenn er alt genug ist.«
»Ich möchte das schriftlich.«
»Sollst du bekommen«, versprach Grau.
»Und den Bürgerbrief?«
Grau nickte. Für ihn war es ein Leichtes, ihn zu erhalten … und vor allem diskret.
7
»Hiermit erklären wir Bernat Estanyol und seinen Sohn Arnau zu freien Bürgern der Stadt Barcelona.« Endlich! Bernat lief es kalt den Rücken hinunter, als er den Mann mit stockender Stimme die Dokumente vorlesen hörte. Er hatte ihn bei der Werft getroffen, nachdem er gefragt hatte, wo er jemanden finden könne, der des Lesens mächtig sei, und ihm eine kleine Münze für diese Gefälligkeit angeboten. Während im Hintergrund der Lärm aus der Werft zu hören war, der Geruch von Teer in der Luft lag und eine Brise Meeresluft sein Gesicht streichelte, hörte Bernat sich an, was in dem zweiten Schriftstück stand: Grau würde Arnau als Lehrling annehmen, wenn dieser zehn Jahre alt war, und verpflichtete sich, ihn im Töpferhandwerk zu unterweisen. Sein Sohn war frei. Er würde eines Tages seinen Lebensunterhalt verdienen und seinen Weg in dieser Stadt machen.
Bernat trennte sich lächelnd von der versprochenen Münze und ging zur Werkstatt zurück. Dass man ihnen den Bürgerbrief ausgestellt hatte, bedeutete, dass Llorenç de Bellera sie nicht bei der Obrigkeit angezeigt hatte und keine Strafsache gegen ihn vorlag. Ob der Junge aus der Schmiede überlebt hatte? Wie auch immer … »Du kannst unser Land haben, Llorenç de Bellera. Wir haben unsere Freiheit«, murmelte Bernat trotzig. Graus Sklaven und auch Jaume unterbrachen ihre Arbeit, als sie Bernat, vor Glück strahlend, hereinkommen sahen. Auf dem Boden klebte immer noch Habibas Blut. Grau hatte angeordnet, es nicht wegzuwischen. Bernat versuchte, nicht daraufzutreten, und seine Miene verdüsterte sich.
»Arnau …«, flüsterte er seinem Sohn in der Nacht zu, als sie auf dem Strohsack lagen, den sie sich teilten.
»Ja, Vater?«
»Wir sind jetzt freie Bürger Barcelonas.«
Arnau antwortete nicht. Bernat tastete nach dem Kopf des Jungen und streichelte ihn. Er wusste, wie wenig das für ein Kind bedeutete, dem man die Freude genommen hatte. Bernat hörte das regelmäßige Atmen der Sklaven und strich seinem Sohn weiter über den Kopf. Doch dann befiel ihn ein Zweifeclass="underline" Würde der Junge zustimmen, irgendwann für Grau zu arbeiten? In dieser Nacht lag Bernat lange wach.
Jeden Morgen, wenn es hell wurde und die Männer ihr Tagwerk begannen, verließ Arnau Graus Werkstatt. Jeden Morgen versuchte Bernat, mit ihm zu sprechen und ihn aufzumuntern. Du musst dir Freunde suchen, wollte er einmal zu ihm sagen, doch bevor er dazu kam, kehrte Arnau ihm den Rücken und schlich niedergeschlagen auf die Straße. Genieße deine Freiheit, mein Sohn, wollte er ihm ein andermal raten, als der Junge ihn erwartungsvoll anschaute. Doch als er gerade zum Sprechen ansetzen wollte, kullerte eine Träne über die Wange des Jungen. Bernat ging in die Knie und konnte ihn nur umarmen. Dann sah er Arnau mit gesenktem Kopf über den Hof davonschleichen. Als Arnau zum wiederholten Mal den Blutflecken von Habiba auswich, hallte erneut Graus Peitsche in Bernats Kopf wider. Er schwor sich, nie mehr vor einer Peitsche zu kuschen – einmal war genug gewesen.