Das königliche Urteil wurde gemäß den örtlichen Gesetzen gesprochen: »Gewinnt die Frau, soll ihr Gatte sie in Ehren wieder aufnehmen und für sämtliche Ausgaben aufkommen, welche die Frau oder ihre Freunde in dieser Sache gehabt haben mögen, sowie für mögliche Verletzungen des Duellanten. Sollte sie indes verlieren, werde sie selbst mitsamt ihrem ganzen Besitz an ihren Mann übergeben.« Ponç konnte nicht lesen, aber er betete den Inhalt des Urteils aus dem Gedächtnis herunter, während er jedem, der es sehen wollte, das Dokument zeigte:
»Hiermit verfügen wir, dass Ponç, sollte er wollen, dass ihm Joana übergeben wird, eine angemessene Kaution zu leisten und die Versicherung zu geben hat, dass er sie bei sich zu Hause in einem Raum von zwölf Spannen Länge, sechs Spannen Breite und zwei Stockbreit Höhe unterbringt. Er verpflichtet sich, ihr ausreichend Stroh zu geben, um darauf zu schlafen, und eine Decke, um sich darunter zu wärmen. Er muss ein Loch ausheben, damit sie ihre Notdurft verrichten kann, und ein Fenster brechen, durch welches Joana ihre Verpflegung erhält. Ponç ist gehalten, ihr täglich zwölf Unzen durchgebackenes Brot zu geben, des Weiteren so viel Wasser, wie sie verlangt. Es ist ihm verboten, ihr etwas zu reichen, das ihren Tod beschleunigt, oder etwas zu tun, das besagte Joana töten könnte. Aus all diesen Gründen muss Ponç eine angemessene Kaution und Versicherung abgeben, bevor man ihm Joana übergibt.«
Ponç brachte die Kaution, die der Stadtrichter von ihm verlangte, und dieser übergab ihm Joana. Der Kupferschmied errichtete in seinem Garten einen Raum von zweieinhalb Metern auf einen Meter zwanzig, hob eine Grube aus, damit die Frau ihre Notdurft verrichten konnte, brach das Fenster in die Wand, durch das sich Joanet, der neun Monate nach dem Urteil zur Welt kam und nie von Ponç anerkannt wurde, über den Kopf streicheln ließ, und mauerte seine junge Frau ein.
»Vater«, flüsterte Arnau Bernat zu, »wie war meine Mutter? Weshalb habt Ihr mir nie von ihr erzählt?«
Was soll ich ihm sagen? Dass sie ihre Jungfräulichkeit unter den Stößen eines betrunkenen Adligen verlor? Dass aus ihr die öffentliche Frau auf der Burg des Herrn von Bellera wurde?, fragte sich Bernat.
»Deiner Mutter«, antwortete er, »war kein Glück beschieden. Sie war eine bedauernswerte Person.«
Bernat hörte, wie Arnau die Nase hochzog, bevor er weitersprach.
»Hat sie mich geliebt?«, fragte der Junge mit belegter Stimme.
»Sie hatte keine Gelegenheit dazu. Sie starb bei deiner Geburt.«
»Habiba hat mich geliebt.«
»Ich liebe dich auch.«
»Aber Ihr seid nicht meine Mutter. Selbst Joanet hat eine Mutter, die ihm übers Haar streicht.«
»Nicht alle Kinder haben eine …«, wollte er ihn korrigieren.
Die Mutter aller Christen! Die Worte der Priester kamen ihm wieder in den Sinn.
»Was sagtet Ihr, Vater?«
»Doch, du hast eine Mutter. Natürlich hast du eine Mutter.« Bernat bemerkte, wie sein Sohn ruhig wurde. »Kindern wie dir, die keine Mutter haben, schenkt Gott eine neue Mutter: die Jungfrau Maria.«
»Wo ist diese Maria?«
»Die Jungfrau Maria«, korrigierte er ihn. »Und sie ist im Himmel.«
Arnau schwieg eine Weile, bevor er erneut nachhakte. »Und was hat man von einer Mutter, die im Himmel ist? Sie wird mich nicht streicheln, nicht mit mir spielen, mich nicht küssen, nicht …«
»Doch, das wird sie.« Bernat erinnerte sich klar und deutlich an die Erklärungen seines Vaters, die dieser ihm gegeben hatte, als er selbst die gleichen Fragen stellte. »Sie schickt die Vögel, damit sie dich streicheln. Wenn du einen Vogel siehst, dann gib ihm eine Botschaft an deine Mutter mit. Du wirst sehen, dass er in den Himmel fliegt, um sie der Jungfrau Maria zu überbringen. Dann geben sie die Nachricht einer an den anderen weiter, und einer von ihnen wird kommen, um fröhlich zwitschernd um dich herumzuflattern.«
»Aber ich verstehe die Vogelsprache nicht.«
»Du wirst lernen, sie zu verstehen.«
»Aber ich werde sie nie sehen können …«
»Doch, du kannst sie sehen. Du kannst sie in einigen Kirchen sehen und du kannst sogar mit ihr sprechen.«
»In den Kirchen?«
»Ja, mein Sohn. Sie ist im Himmel und in einigen Kirchen, und du kannst durch die Vögel mit ihr sprechen oder in diesen Kirchen. Sie wird dir durch die Vögel antworten oder nachts, wenn du schläfst, und sie wird dich mehr lieben und verwöhnen als jede Mutter, die du sehen kannst.«
»Mehr als Habiba?«
»Viel mehr.«
»Und heute Nacht?«, fragte der Junge. »Heute habe ich nicht mit ihr gesprochen.«
»Keine Sorge, ich habe das für dich getan. Schlaf jetzt, und du wirst sehen.«
8
Die beiden neuen Freunde trafen sich jeden Tag. Sie liefen zusammen zum Strand, um die Schiffe zu betrachten, oder streiften durch die Straßen von Barcelona. Jedes Mal, wenn sie vor der Gartenmauer spielten und die Stimmen von Josep, Genis oder Margarida aus dem Garten der Puigs zu hören waren, sah Joanet, wie sein Freund in den Himmel blickte, so als hielte er Ausschau nach etwas, das über den Wolken schwebte.
»Was schaust du da?«, fragte er ihn eines Tages.
»Ach, nichts«, antwortete Arnau.
Das Lachen im Garten wurde lauter und Arnau blickte erneut in den Himmel.
»Sollen wir auf den Baum klettern?«, fragte Joanet, der glaubte, es seien die Äste, die die Aufmerksamkeit seines Freundes weckten.
»Nein«, antwortete Arnau, während er nach einem Vogel Ausschau hielt, dem er eine Botschaft an seine Mutter mitgeben konnte.
»Warum willst du nicht auf den Baum klettern? Dann könnten wir sehen, wie …«
Was sollte er der Jungfrau Maria sagen? Was sagte man einer Mutter? Joanet unterhielt sich nicht mit seiner Mutter. Er hörte ihr nur zu und sagte ja oder nein … Aber er konnte wenigstens ihre Stimme hören und ihre Liebkosungen spüren, dachte Arnau.
»Klettern wir rauf?«
»Nein!«, schrie Arnau so laut, dass Joanet das Lächeln verging. »Du hast schon eine Mutter, die dich liebt, du brauchst keinen anderen Müttern hinterherzuspionieren.«
»Wenn wir raufklettern …«, erwiderte Joanet.
Dass sie sie liebten! Das sagten ihre Kinder zu Guiamona. »Sag ihr das, Vögelchen.« Arnau sah den Vogel in den Himmel fliegen. »Sag ihr, dass ich sie liebe.«
»Was ist jetzt? Klettern wir rauf?«, beharrte Joanet, während er bereits nach den unteren Ästen griff.
»Nein. Ich brauche das nicht …« Joanet ließ den Ast los und sah seinen Freund fragend an. »Ich habe auch eine Mutter.«
»Eine neue?«
Arnau zögerte.
»Ich weiß nicht. Sie heißt Jungfrau Maria.«
»Jungfrau Maria? Und wer ist das?«
»Sie lebt in bestimmten Kirchen. Ich weiß, dass sie immer in diese Kirche gegangen sind.« Er deutete in Richtung Mauer. »Aber sie haben mich nie mitgenommen.«
»Ich weiß, wo eine ist.« Arnau sah Joanet mit großen Augen an. »Wenn du willst, bringe ich dich hin. Zu der größten von Barcelona!«
Wie immer rannte Joanet davon, ohne die Antwort seines Freundes abzuwarten. Aber Arnau war schon auf der Hut und hatte ihn gleich eingeholt.
Sie liefen bis zur Calle de la Boquería und durch die Calle de Bisbe am Judenviertel entlang, bis sie vor der Kathedrale standen.
»Und du glaubst, die Jungfrau Maria ist da drin?«, fragte Arnau seinen Freund und deutete auf die Gerüste, die an den noch unvollendeten Mauern emporwuchsen. Er folgte mit dem Blick einem großen Stein, der von mehreren Männern mithilfe eines Seilzugs nach oben gehoben wurde.
»Natürlich«, antwortete Joanet überzeugt. »Das ist eine Kirche.«
»Das ist keine Kirche!«, hörten die beiden jemanden hinter ihrem Rücken sagen. Sie fuhren herum und standen vor einem grobschlächtigen Mann, der einen Hammer und eine Raspel in der Hand hielt. »Das ist die Kathedrale«, erklärte er, stolz auf seine Arbeit als Gehilfe des Steinmetzmeisters. »Verwechselt sie nie mit einer Kirche.«