Arnau und Joanet gingen jetzt jeden Tag nach Santa María, um in der Kirche niederzuknien. Bestärkt von seiner Mutter, hatte Joanet beschlossen, das Beten zu lernen, und sagte ein ums andere Mal die Gebete auf, die Arnau ihm beibrachte. Wenn die beiden Freunde sich später verabschiedeten, lief der Kleine zu dem Fensterchen und erzählte, wie viel er an diesem Tag gebetet hatte. Arnau hielt stumme Zwiesprache mit seiner Mutter. Nur wenn Pater Albert – denn so hieß der Pfarrer – zu ihnen trat, stimmte er in Joanets Gemurmel ein.
Wenn Arnau und Joanet die Kirche verließen, blieben sie immer in einiger Entfernung stehen, um die Bauarbeiten zu beobachten, die Zimmerleute, Steinmetze und Maurer. Dann hockten sie sich auf den Platz und warteten, bis Angel eine Pause machte und sich zu ihnen setzte, um Brot und Käse zu essen. Pater Albert betrachtete sie mit Wohlwollen, die Arbeiter von Santa María lächelten ihnen zu, und sogar die Bastaixos schenkten den beiden Kindern, die dort vor der Kirche saßen, einen Blick, wenn sie mit Steinen beladen zur Baustelle kamen.
»Weshalb bauen sie die Gerüste noch höher?«, fragte Arnau noch einmal.
Die drei sahen zum hinteren Teil der Kirche hinüber, wo sich die zehn Pfeiler in den Himmel reckten, acht im Halbkreis, zwei etwas weiter weg. Dahinter hatte man mit dem Bau der Streben und der Mauern begonnen, aus denen die Apsis entstehen sollte. Die Pfeiler überragten die kleine romanische Kirche, doch die Gerüste wuchsen immer weiter in die Höhe, als wären die Handwerker verrückt geworden und wollten eine Leiter bis in den Himmel bauen.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Angel.
»Diese Gerüste tragen ja gar nichts«, stellte Joanet fest.
»Aber sie werden etwas tragen müssen«, behauptete da eine sichere Männerstimme.
Die drei fuhren herum. Vor lauter Lachen und Husten hatten sie nicht bemerkt, dass hinter ihnen mehrere Männer standen. Einige waren vornehm gekleidet, andere trugen Priestergewänder mit edelsteinbesetzten Goldkreuzen auf der Brust, schweren Ringen und gold- und silberdurchwirkten Schärpen.
Pater Albert sah sie von der Kirchentür aus und eilte ihnen entgegen, um sie zu begrüßen. Angel sprang mit einem Satz auf und verschluckte sich erneut. Er sah den Mann, der ihnen geantwortet hatte, nicht zum ersten Mal, doch nur selten hatte er ihn von so viel Prunk umgeben gesehen. Es war Berenguer de Montagut, der Baumeister von Santa María del Mar.
Auch Arnau und Joanet standen auf. Pater Albert trat zu der Gruppe und begrüßte die Bischöfe, indem er ihre Ringe küsste.
»Was werden sie tragen?«
Joanets Frage ließ Pater Albert auf halbem Wege zu einem weiteren Handkuss verharren. Aus seiner unbequemen Haltung heraus sah er den Jungen streng an. Sprich nicht, wenn du nicht gefragt wirst, schien sein Blick zu sagen. Einer der Pröpste machte Anstalten, zur Kirche zu gehen, doch Berenguer de Montagut fasste Joanet an der Schulter und beugte sich zu ihm hinunter.
»Kinder können oft sehen, was wir nicht sehen«, sagte er laut zu seinen Begleitern. »Es würde mich also nicht wundern, wenn diese Knaben etwas bemerkt hätten, was uns womöglich entgangen ist. Du willst wissen, weshalb wir die Gerüste noch höher bauen?« Joanet nickte, nicht ohne zuvor zu Pater Albert hinüberzusehen. »Siehst du das Ende der Pfeiler? Von dort oben, von jedem einzelnen, werden acht Bögen ausgehen, und auf ihnen wird das Gewölbe der neuen Apsis ruhen.«
»Was ist ein Gewölbe?«, fragte Arnau.
Berenguer lächelte und blickte sich um. Einige der Anwesenden lauschten den Erklärungen ebenso aufmerksam wie die Kinder.
»Ein Gewölbe ist in etwa so.« Der Baumeister legte die Finger gegeneinander, sodass sie eine Art Kuppel bildeten. Die Jungen blickten gebannt auf diese magischen Hände. Einige aus der hinteren Reihe reckten die Hälse, auch Pater Albert. »Stellt euch vor, meine Finger wären die Gewölberippen, für die wir vorher Holzgerüste gebaut haben. Und ganz oben, hier« – er öffnete die Hände und wies auf die Spitze seines Zeigefingers – »kommt ein großer Stein hin, den man Schlussstein nennt. Diesen Stein müssen wir ganz nach oben auf die Gerüste hieven. Seht ihr, dort?« Alle schauten nach oben. »Wenn wir ihn an seinen Platz gebracht haben, verkleiden wir den Raum zwischen zwei Gerüsten mit Brettern und formen die Gewölbeschale aus leichtem Stein und Mörtel. Dafür brauchen wir diese hohen Gerüste. Nachher kommt das Holz natürlich wieder weg.«
»Und wozu diese ganze Arbeit?«, hakte Arnau nach. Der Priester zuckte zusammen, als er den Jungen so sprechen hörte, auch wenn er sich bereits an seine Fragen und Beobachtungen zu gewöhnen begann. »Das alles wird man doch gar nicht sehen, wenn man in der Kirche ist. Es ist über dem Dach.«
Berenguer lachte, und einige seiner Begleiter stimmten mit ein. Pater Albert seufzte.
»Natürlich wird man es sehen, mein Junge. Die kleine Kirche, die jetzt hier steht, wird im Verlauf der Bauarbeiten verschwinden. Es ist, als entstünde aus dieser kleinen Kirche eine neue, größere und …«
Joanets unwilliges Gesicht überraschte ihn. Der Junge hatte sich an die Intimität der kleinen Kirche gewöhnt, an ihren Geruch, die Dunkelheit, die Geborgenheit, die er fand, wenn er dort betete.
»Liebst du die Jungfrau vom Meer?«, fragte ihn Berenguer.
Joanet sah Arnau an und beide nickten einhellig.
»Nun, wenn ihre neue Kirche fertig ist, wird diese Jungfrau, die ihr so sehr liebt, mehr Licht haben als jede andere Madonna auf der Welt. Sie wird nicht mehr im Dunkeln sein wie jetzt, und sie wird die schönste Kirche ihr Eigen nennen, die man sich nur vorstellen kann. Nicht mehr dicke, niedrige Mauern werden sie umgeben, sondern hohe, lichte Wände mit Pfeilern und Fenstern, die bis in den Himmel hinaufreichen.«
Alle schauten gen Himmel.
»Ja«, fuhr Berenguer de Montagut fort, »die neue Kirche der Jungfrau vom Meer wird bis in den Himmel reichen.«
Dann schritt er gemeinsam mit seinen Begleitern auf Santa María zu. Die Kinder und Pater Albert blieben zurück und sahen ihnen nach.
»Pater«, fragte Arnau schließlich, als die Besucher außer Hörweite waren, »was geschieht denn mit der Jungfrau, wenn die kleine Kirche abgebrochen wird, die neue aber noch nicht fertiggestellt ist?«
»Siehst du die Strebepfeiler dort drüben?«, antwortete der Pfarrer und deutete auf zwei der Pfeiler, die sich im Bau befanden, um den Umgang hinter dem Hauptaltar zu schließen. »Zwischen diesen beiden Pfeilern wird die Hauptkapelle errichtet, die Sakramentskapelle. Dort wird man die Jungfrau vorläufig unterbringen, neben dem Leib Christi und den Gebeinen der heiligen Eulàlia, damit sie keinen Schaden nimmt.«
»Und wer wird sie bewachen?«
»Keine Sorge«, antwortete der Priester, nun mit einem Lächeln auf den Lippen, »die Jungfrau wird gut bewacht sein. Die Sakramentskapelle gehört der Bruderschaft der Bastaixos. Sie besitzen den Schlüssel und werden deine Jungfrau bewachen.«
Arnau und Joanet kannten die Bastaixos inzwischen. Angel hatte ihnen ihre Namen genannt, wenn sie, einer hinter dem anderen, mit ihren riesigen Steinen beladen ankamen. Da war Ramon, den sie als Ersten kennengelernt hatten. Guillem, hart wie der Stein, den er auf seinem Rücken trug, von der Sonne gegerbt, das Gesicht von einem Unfall schrecklich entstellt, aber sanft und freundlich im Umgang. Ein weiterer Ramon, ›der Kleine‹ genannt, weil er kleiner war als der erste Ramon und von gedrungener Gestalt. Miquel, ein sehniger Mann, dem man gar nicht zutraute, dem Gewicht seiner Last standzuhalten, doch er schaffte es, indem er alle Sehnen seines Körpers anspannte, bis es aussah, als könnten sie jeden Augenblick reißen. Sebastià, der Schweigsamste unter ihnen, und sein Sohn Bastianet. Pere, Jaume und so viele andere Namen, die jenen Arbeitern aus dem Ribera-Viertel gehörten, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die Tausende von Steinen, die für den Bau der Kirche benötigt wurden, vom königlichen Steinbruch La Roca nach Santa María del Mar zu schleppen.