Nach Tausenden von Berechnungen und unendlich vielen Skizzen hatte er schließlich die exakte Stelle auf den Planken des obersten Gerüsts angezeichnet. Dort musste der Schlussstein liegen, keine Handbreit weiter rechts oder links. Die Männer wurden ungeduldig, als Berenguer de Montagut, anders als auf den anderen Ebenen, nicht zuließ, dass sie den Stein auf die Planken absenkten, und immer neue Anweisungen gab.
»Noch ein Stückchen, Santa María. Nein! Zieht, Santa Clara. Jetzt wartet. Santa Eulàlia! Santa Clara! Santa María! Weiter nach oben! Nach unten! Jetzt!«, rief er plötzlich. »Halt! Nach unten! Stück für Stück! Ganz langsam!«
Plötzlich war keine Spannung mehr auf den Seilen. Schweigend sahen alle nach oben, wo Berenguer de Montagut sich bückte, um die Lage des Schlusssteins zu prüfen. Er ging um den Stein herum, der zwei Meter im Durchmesser maß, dann richtete er sich auf und winkte nach unten.
An die Mauer der alten Kirche gelehnt, glaubten Arnau und Joanet den Widerhall des Jubelgeschreis zu spüren, der aus den Kehlen der Männer kam, die seit Stunden an den Seilen gezogen hatten. Einige umarmten sich und vollführten Luftsprünge vor Freude. Die Hunderte von Zuschauern, die das Schauspiel verfolgt hatten, johlten und applaudierten. Arnau hatte einen Kloß im Hals und eine Gänsehaut.
»Ich wäre so gerne schon älter«, flüsterte Arnau an diesem Abend seinem Vater zu, als sie nebeneinander auf dem Strohsack lagen. Ringsum war das Husten und Schnarchen der Sklaven und Lehrlinge zu hören.
Bernat versuchte zu ergründen, woher dieser Wunsch rührte. Arnau war glückstrahlend nach Hause gekommen und hatte tausendmal erzählt, wie sie den Schlussstein der Apsis von Santa María an seinen Platz gebracht hatten. Selbst Jaume hatte gebannt zugehört.
»Warum denn das, mein Junge?«
»Alle haben eine Aufgabe. In Santa María sind viele Jungen, die ihren Vätern oder Lehrmeistern zur Hand gehen. Joanet und ich hingegen …«
Bernat legte den Arm um die Schultern des Jungen und zog ihn an sich. Tatsächlich lungerte Arnau jeden Tag dort herum, außer wenn man ihm hin und wieder einen Auftrag erteilte. Was also konnte er Sinnvolles tun?
»Du magst doch die Bastaixos, nicht wahr?«
Bernat hatte die Begeisterung bemerkt, mit der sein Sohn ihm von diesen Männern erzählte, die die Steine zur Kirche schleppten. Die Jungen folgten ihnen bis vor die Tore der Stadt, um dort auf sie zu warten und dann mit ihnen am Strand entlang zurückzugehen, von Framenors bis zur Kirche Santa María.
»Ja«, antwortete Arnau, während sein Vater etwas unter der Matratze hervorholte.
»Hier, nimm«, sagte er und überreichte ihm den alten Wasserschlauch, der sie auf ihrer Flucht begleitet hatte. »Biete ihnen kühles Wasser an. Du wirst sehen, sie werden es nicht zurückweisen und dir dankbar dafür sein.«
Am nächsten Morgen wartete Joanet wie immer in aller Frühe vor Graus Werkstatt auf ihn. Arnau zeigte ihm den Schlauch. Dann hängte er ihn sich um den Hals und sie liefen zum Strand hinunter, zum Angel-Brunnen am Markt Los Encantes. Es war der einzige Brunnen, der am Weg der Bastaixos lag. Der nächste befand sich bereits bei der Kirche Santa María.
Als die Jungen die Schlange der Bastaixos, die gebückt unter der Last der Steine liefen, langsam herannahen sahen, kletterten sie auf eines der Boote, das am Strand lag. Arnau hielt dem ersten Bastaix den Schlauch hin. Der Mann lächelte und blieb neben dem Boot stehen, damit ihm Arnau einen Strahl Wasser direkt in den Mund spritzen konnte. Die übrigen warteten, bis er mit dem Trinken fertig war, dann kam der Nächste an die Reihe. Auf dem Rückweg zum Steinbruch, von ihrer Last befreit, hielten die Bastaixos bei dem Boot an, um ihnen für das kühle Wasser zu danken.
Von diesem Tag an wurden Arnau und Joanet die Wasserträger der Bastaixos. Sie warteten neben dem Angel-Brunnen auf sie, und wenn ein Schiff zu entladen war und die Bastaixos nicht in Santa María arbeiteten, folgten sie ihnen durch die Stadt, um ihnen Wasser zu geben, ohne dass sie die schweren Bündel abladen mussten, die sie auf dem Rücken trugen.
Sie gingen auch weiterhin nach Santa María, um die Bauarbeiten zu verfolgen, mit Pater Albert zu sprechen und Angel beim Essen zuzusehen. Wer sie sah, konnte einen neuen Glanz in ihren Augen entdecken, wenn sie die Kirche betrachteten. Auch sie trugen nun zu ihrem Bau bei! So hatten es ihnen die Bastaixos und sogar Pater Albert gesagt.
Während der Schlussstein oben auf dem Gerüst thronte, konnten die Jungen beobachten, wie von den zehn Pfeilern die Rippen emporzuwachsen begannen. Die Maurer reihten auf den Bogengerüsten einen Stein an den anderen, immer näher auf den Schlussstein zu. Um die ersten acht Pfeiler herum waren bereits die Mauern des Chorumgangs errichtet worden. Die Strebepfeiler ragten nach innen, ins Innere der Kirche. Zwischen zweien dieser Strebepfeiler, so hatte ihnen Pater Albert erzählt, sollte sich die Sakramentskapelle befinden, die Kapelle der Bastaixos, wo die Jungfrau ihren Platz finden würde.
»Wisst ihr, woraus das Deckengewölbe bestehen wird?«, fragte der Pfarrer sie. Die Jungen schüttelten die Köpfe. »Aus allen zersprungenen Keramikgefäßen der Stadt. Zuerst werden Quader angebracht und darauf eine Schicht aus sämtlichen Keramikscherben, eine auf der anderen. Darüber erst kommt das Kirchendach.«
Arnau hatte die ganzen Gefäße auf einem Haufen neben den Steinen für Santa María liegen sehen. Er hatte seinen Vater gefragt, warum sie dort lagen, doch Bernat hatte keine Antwort gewusst.
»Ich weiß nur«, erklärte er, »dass alle zerbrochenen Stücke gesammelt werden, bis sie abgeholt werden. Ich wusste nicht, dass sie für deine Kirche bestimmt sind.«
So nahm die neue Kirche hinter der Apsis der alten Kirche Gestalt an. Man hatte bereits damit begonnen, diese vorsichtig abzubrechen, um die Steine wieder verwenden zu können. Das Ribera-Viertel sollte nicht auf eine Kirche verzichten müssen, auch nicht in der Zeit, während die neue, wunderbare Marienkirche entstand. Die Gottesdienste gingen unverändert weiter. Dennoch war es ein sonderbares Gefühl. Wie alle anderen betrat Arnau die Kirche durch das trichterförmige Portal des kleinen romanischen Baus. Im Inneren war die Dunkelheit, in die er sich immer geflüchtet hatte, um mit seiner Jungfrau zu sprechen, dem Licht gewichen, das durch die großen Fenster der neuen Apsis flutete. Die alte Kirche glich einem kleinen Raum, der von der Großartigkeit eines weiteren, größeren Raums umgeben war, ein Raum, der immer weiter verschwand, je weiter der Bau des zweiten voranschritt. Ein winziger Raum, an dessen Ende sich die hohe, bereits überwölbte Apsis von Santa María del Mar öffnete.
11
Doch Arnaus Leben beschränkte sich nicht auf Santa María und darauf, den Bastaixos zu trinken zu geben. Zu seinen Aufgaben, mit denen er sich Kost und Logis verdiente, gehörte es unter anderem, der Köchin zu helfen, wenn diese in der Stadt ihre Einkäufe erledigte.
Alle zwei oder drei Tage verließ Arnau bei Tagesanbruch Graus Werkstatt, um Estranya, die Sklavin, zu begleiten. Sie ging mit schwankenden, unsicheren Schritten, wobei ihre üppigen Fleischmassen bedenklich wogten. Sobald Arnau in der Küchentür erschien, überreichte ihm die Sklavin wortlos zwei Körbe mit Brotlaiben, die er zum Backhaus in der Calle Ollers Blanc bringen sollte. In dem einen befanden sich die Brotlaibe für Grau und seine Familie. Sie waren aus hellem Weizenmehl geformt und würden ein köstliches Weißbrot ergeben. In dem anderen waren die Brote für die übrigen Haushaltsmitglieder. Diese Brote waren aus Gerste, Hirse oder gar Bohnen- oder Kichererbsenmehl, und sie waren dunkel, fest und hart.