Arnaus Gesicht wirkte ungerührt, als ihm sein Vater beim Essen die Nachricht mitteilte.
»Hast du gehört, was ich gesagt habe, mein Junge?«, fragte Bernat.
Arnau nickte. Er hatte Guiamona seit einem Jahr nicht mehr gesehen, abgesehen von den inzwischen auch schon eine Weile zurückliegenden Gelegenheiten, bei denen er auf den Baum geklettert war, um zuzusehen, wie sie mit seinen Cousins spielte. Da saß er, verborgen in seinem Versteck, und weinte stumme Tränen, während sie lachten und umherliefen, und niemand … Er war versucht, seinem Vater zu sagen, dass Guiamona ihn nicht geliebt hatte, dass ihm daher ihr Tod gleichgültig war, doch der traurige Ausdruck in Bernats Augen hielt ihn davon ab.
»Vater …« Arnau trat zu seinem Vater.
Bernat umarmte seinen Sohn.
»Nicht weinen«, murmelte Arnau, den Kopf an die Brust des Mannes gelehnt.
Bernat drückte ihn fest an sich und Arnau schlang seine Arme um ihn.
Gemeinsam mit den Sklaven und Lehrlingen nahmen sie schweigend ihre Mahlzeit ein, als der erste Klagelaut ertönte. Es war ein markerschütternder Schrei, der die Luft zu zerreißen schien. Alle sahen zum Haus herüber.
»Klageweiber«, sagte einer der Lehrlinge. »So wie meine Mutter. Vielleicht ist sie das. Keine in der ganzen Stadt weint so ergreifend wie sie«, setzte er stolz hinzu.
Arnau blickte zu seinem Vater. Ein weiterer Schrei erklang, und Bernat sah, wie sein Sohn zusammenzuckte.
»Wir werden noch einige davon hören«, warnte er ihn. »Ich habe gehört, dass Grau sehr viele Klageweiber hat rufen lassen.«
Und so war es. Den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch beweinten mehrere Frauen Guiamonas Tod, während die Leute in das Haus der Puigs strömten, um ihr Beileid auszusprechen. Weder Bernat noch sein Sohn taten bei diesem unablässigen Jammern der Klageweiber ein Auge zu.
»Ganz Barcelona weiß davon«, erzählte Joanet Arnau am nächsten Morgen, als dieser seinen Freund in der Menge entdeckte, die sich vor Graus Haus drängte. Arnau zuckte mit den Schultern. »Alle sind zur Beerdigung gekommen«, ergänzte Joanet angesichts der Geste seines Freundes.
»Warum?«
»Weil Grau reich ist und jedem, der kommt, um mit ihm zu trauern, etwas zum Anziehen schenkt. So wie das hier«, sagte Joanet lächelnd und zeigte Arnau ein langes, schwarzes Hemd.
Am späten Vormittag, als alle Anwesenden schwarz gekleidet waren, machte sich der Trauerzug auf den Weg zur Nazareth-Kirche. Dort befand sich die Kapelle des heiligen Hippolitus, Schutzpatron der Töpferzunft. Die Klageweiber gingen weinend und heulend neben dem Sarg her und rauften sich vor Trauer die Haare.
Die Kirche war voller wichtiger Persönlichkeiten, Zunftmeister verschiedener Innungen, Stadträte und die meisten Mitglieder des Rats der Hundert. Nun, da Guiamona tot war, achtete niemand auf die Estanyols. Doch Bernat zog seinen Sohn zu der Stelle, wo der Leichnam aufgebahrt war und sich die schlichten, von Grau verteilten Kleider mit Seidenstoffen und kostbarem schwarzen Leinen mischten. Man hatte ihm nicht einmal erlaubt, Abschied von seiner Schwester zu nehmen.
Während die Priester die Totenmesse lasen, konnte Arnau von dort die betrübten Gesichter seiner Cousins erkennen. Josep und Genis waren gefasst. Margarida zeigte Haltung, konnte jedoch nicht verhindern, dass ihre Unterlippe unablässig bebte. Sie hatten ihre Mutter verloren, genau wie er. Arnau fragte sich, ob sie das mit der Jungfrau Maria wussten. Dann sah er zu seinem Onkel hinüber, der reglos dastand. Arnau war sich sicher, dass Grau Puig seinen Kindern nicht davon erzählen würde. Die Reichen sind anders, hörte er immer wieder. Vielleicht gab es für sie einen anderen Weg, eine neue Mutter zu finden.
Die Trauerzeit war noch nicht vorüber, als Grau die ersten Ehevorschläge angetragen wurden. Und er hatte keine Bedenken, sie zu prüfen. Schließlich fiel seine Wahl auf Isabel, ein junges und wenig ansehnliches, aber adliges Mädchen. Sie sollte die neue Mutter von Guiamonas Kindern werden. Grau hatte die Vorzüge aller Anwärterinnen abgewägt, entschied sich jedoch letztlich für die einzige Adlige. Ihre Mitgift waren keinerlei Pfründen, Ländereien oder Reichtümer, lediglich ein Titel. Doch dieser würde ihm Zugang zu einer Klasse verschaffen, die ihm bislang verwehrt geblieben war. Was hatte er von der großzügigen Mitgift, die ihm einige Händler boten, weil sie auf eine Teilhabe an Graus Reichtum hofften? Die großen Adelsfamilien der Stadt kümmerte die Witwerschaft eines einfachen Töpfers nicht, so reich er auch sein mochte. Lediglich Isabels Vater, der über keinerlei Vermögen verfügte, erkannte in Graus Persönlichkeit die Möglichkeit zu einer vorteilhaften Allianz für beide Seiten, und er täuschte sich nicht.
»Du wirst gewiss verstehen«, wandte er sich an seinen zukünftigen Schwiegersohn, »dass meine Tochter nicht in einer Töpferwerkstatt leben kann.« Grau nickte. »Genauso wenig kann sie sich mit einem einfachen Töpfer vermählen.«
Diesmal wollte Grau etwas erwidern, doch sein Schwiegervater machte eine unwirsche Handbewegung.
»Grau«, setzte er hinzu, »wir Adligen können uns nicht mit dem Handwerk abgeben, verstehst du? Mag sein, dass wir nicht reich sind, aber wir werden niemals Handwerker werden.«
Wir Adligen … Grau ließ sich seine Befriedigung darüber, darin mit eingeschlossen zu sein, nicht anmerken. Und sein Schwiegervater hatte recht: Welcher Adlige in der Stadt besaß schon einen Handwerksbetrieb? Von nun an würde er bei seinen Handelsgeschäften und im Rat der Hundert der ›Herr Baron‹ sein. Baron! Wie sollte ein Baron von Katalonien einen Handwerksbetrieb unterhalten?
Durch Graus Protektion, der nach wie vor Zunftmeister war, hatte Jaume keinerlei Probleme, in den Meisterstand aufzusteigen. Die Angelegenheit wurde in aller Hast erledigt, weil es Grau sehr eilig damit war, Isabel zu heiraten. Ihn plagte die Angst, dass diese stets launischen Adligen es sich noch einmal anders überlegen könnten. Der zukünftige Baron hatte keine Zeit zu verlieren. Jaume würde Meister werden, und Grau würde ihm die Werkstatt und das Haus verkaufen, zahlbar in Raten. Es gab nur ein Problem.
»Ich habe vier Söhne«, erklärte Jaume. »Es wird schon schwierig genug für mich werden, Euch den Kaufpreis zu zahlen.« Grau forderte ihn auf fortzufahren. »Ich kann nicht alle Beschäftigten halten, die Ihr habt, Sklaven, Gesellen, Lehrlinge … Ich könnte sie nicht einmal ernähren! Wenn ich vorwärtskommen will, muss ich mit meinen vier Söhnen zurechtkommen.« Grau erklärte sich mit allem einverstanden.
Der Tag der Hochzeit stand bereits fest. Auf Vermittlung von Isabels Vater hatte Grau einen kostspieligen Stadtpalast in der Calle de Monteada erworben, wo die Adelsfamilien Barcelonas lebten.
Sie hatten jeden Winkel seines neuen Zuhauses inspiziert. Grau überschlug im Kopf, was es ihn kosten würde, all diese Räume zu füllen. Hinter dem großen Portal zur Calle de Monteada lag ein gepflasterter Innenhof. Gegenüber befanden sich die Stallungen, die den größten Teil des Erdgeschosses einnahmen, sowie der Küchentrakt und die Schlafräume der Sklaven. Zur Rechten führte ein großer, steinerner Treppenaufgang in den ersten Stock, wo sich die Salons und weitere Wohnräume befanden. Darüber lagen im zweiten Stock die Schlafräume. Der gesamte Stadtpalast war aus Stein erbaut. Die großzügigen Spitzbogenfenster der Wohnetagen gingen auf den Patio hinaus.
Noch am selben Tag unterzeichneten sie den Kaufvertrag für die Werkstatt und Grau erschien stolz mit dem Schriftstück bei seinem Schwiegervater.
»Herr Baron«, antwortete dieser und reichte ihm die Hand.
»Und nun?«, überlegte Grau, als er wieder alleine war. »Die Sklaven sind kein Problem. Ich behalte die, die ich gebrauchen kann, die anderen kommen auf den Markt. Was die Gesellen und Lehrlinge betrifft …«
Grau sprach mit den Zunftmitgliedern und brachte sein gesamtes Personal gegen Zahlung geringer Summen anderweitig unter. Blieben nur sein Schwager und der Junge. Bernat hatte keinerlei Stand in der Zunft; er war nicht einmal Geselle. Niemand würde ihn in seiner Werkstatt einstellen, abgesehen davon, dass es verboten war. Der Junge hatte noch nicht einmal mit seiner Lehre begonnen, aber es existierte ein Vertrag. Und überhaupt: Wie sollte er jemanden darum bitten, einen Estanyol einzustellen? So würden alle erfahren, dass diese beiden Landflüchtigen mit ihm verwandt waren. Sie hießen Estanyol, wie Guiamona. Alle würden erfahren, dass er zwei Leibeigenen Unterschlupf gewährt hatte, und nun, da er in den Adelsstand aufgenommen werden würde … Waren nicht die Adligen die erbittertsten Feinde der flüchtigen Bauern? Waren es nicht ebendiese Adligen, die den König drängten, die Gesetze so zu ändern, dass solche Fluchten unmöglich wurden? Wie sollte er ein Adliger werden, wenn die Estanyols in aller Munde waren? Und was würde sein Schwiegervater sagen?