»Die Zeit heilt alle Wunden«, sagte Bernat eines Morgens zu Arnau. »Wir müssen abwarten und ihm unsere Zuneigung und unsere Hilfe anbieten.«
Doch Joanet schwieg weiter, abgesehen von den Weinkrämpfen, die ihn jede Nacht schüttelten. Vater und Sohn lagen still auf ihrem Lager und hörten ihm zu, bis Joanets Kräfte nachzulassen schienen und der Schlaf ihn übermannte.
»Joanet«, hörte Bernat Arnau eines Nachts nach ihm rufen, »Joanet …«
Er bekam keine Antwort.
»Wenn du willst, kann ich die Jungfrau bitten, auch deine Mutter zu sein.«
Gut gemacht, mein Junge!, dachte Bernat. Er hatte ihm diesen Vorschlag nicht machen wollen. Es war Arnaus Jungfrau, Arnaus Geheimnis. Er musste es sein, der diese Entscheidung traf.
Doch Joanet antwortete nicht. Es herrschte absolute Stille im Zimmer.
»Joanet?«, versuchte es Arnau noch einmal.
»So hat mich meine Mutter genannt.« Es war das Erste, was Joanet seit Tagen sagte. Bernat blieb still liegen. »Und sie ist nicht mehr da. Ich heiße jetzt Joan.«
»Wie du willst … Hast du gehört, was ich über die Jungfrau gesagt habe, Joanet … Joan?«, korrigierte sich Arnau.
»Aber deine Mutter spricht nicht mit mir. Meine hat mit mir gesprochen.«
»Erzähl ihm das mit den Vögeln!«, flüsterte Bernat.
»Aber ich kann die Jungfrau sehen, und du konntest deine Mutter nicht sehen.«
Der Junge schwieg erneut.
»Woher weißt du, dass sie dich hört?«, fragte er schließlich. »Sie ist nur eine Figur aus Stein, und Figuren aus Stein können nicht hören.«
Bernat hielt den Atem an.
»Wenn sie nicht hören kann«, entgegnete Arnau, »warum sprechen dann alle mit ihr? Sogar Pater Albert tut das. Du hast es selbst gesehen. Glaubst du vielleicht, Pater Albert irrt sich?«
»Aber sie ist nicht Pater Alberts Mutter«, beharrte der Kleine. »Er hat mir gesagt, dass er schon eine Mutter hat. Woher soll ich wissen, dass die Jungfrau meine Mutter sein will, wenn sie nicht mit mir spricht?«
»Sie wird es dir nachts sagen, wenn du schläfst, und durch die Vögel.«
»Durch die Vögel?«
Arnau zögerte. Ehrlich gesagt, hatte er das mit den Vögeln nie verstanden, sich aber nicht getraut, es seinem Vater zu sagen. »Das ist ein bisschen komplizierter. Mein … unser Vater wird es dir erklären.«
Bernat hatte erneut einen Kloß im Hals. Es wurde wieder still im Zimmer, bis Joanet weitersprach: »Arnau, könnten wir die Jungfrau jetzt sofort fragen gehen?«
»Jetzt?«
Ja, jetzt, mein Junge. Er braucht das, dachte Bernat.
»Bitte.«
»Du weißt, dass es verboten ist, nachts in die Kirche zu gehen. Pater Albert …«
»Wir werden ganz leise sein. Niemand wird etwas merken. Bitte.«
Arnau gab nach, und die beiden Jungen schlichen sich leise aus Peres Haus, um die wenigen Schritte bis Santa María del Mar zurückzulegen.
Bernat rollte sich auf der Matratze zusammen. Was konnte den Jungen schon zustoßen? Alle in der Kirche mochten sie.
Das Mondlicht ergoss sich auf die Gerüste, die halb fertigen Mauern, die Strebepfeiler, Bögen und Gewölbe … Santa María lag still da, und nur das eine oder andere Feuer wies auf die Anwesenheit von Wächtern hin. Arnau und Joanet gingen um die Kirche herum bis zur Calle del Born. Das Portal war verschlossen, und der Bereich um den Friedhof, wo der größte Teil des Baumaterials lagerte, war am besten bewacht. Ein einsames Feuer beleuchtete die im Bau befindliche Chormauer. Es war nicht schwer, in die Kirche zu gelangen: Dort, wo die Eingangstreppe entstehen sollte, befand sich ein hölzernes Gerüst, auf dem der Baumeister Montagut angezeichnet hatte, wo genau das Portal und die Stufen entstehen sollten. Sie betraten die Kirche und schlichen leise zur Sakramentskapelle im Chorumgang, wo hinter einem schön gearbeiteten, schmiedeeisernen Gitter die Jungfrau auf sie wartete, wie stets von den Kerzen erleuchtet, die immer wieder von den Bastaixos erneuert wurden.
Die beiden bekreuzigten sich – »Das müsst ihr immer tun, wenn ihr die Kirche betretet«, hatte ihnen Pater Albert gesagt – und umklammerten die Gitterstäbe vor der Kapelle.
»Ich möchte, dass du seine Mutter wirst«, hielt Arnau stumme Zwiesprache mit der Madonna. »Seine ist gestorben, und mir macht es nichts aus, dich zu teilen.«
Joan umklammerte mit den Händen die Gitterstäbe und blickte zwischen der Jungfrau und Arnau hin und her.
»Und?«, fragte er.
»Still!«
»Papa sagt, dass er viel mitgemacht hat. Seine Mutter war eingesperrt, weißt du? Sie streckte nur ihren Arm durch ein kleines Fensterchen, und er konnte sie nicht sehen, bis sie starb. Aber er hat mir erzählt, dass er sie auch dann nicht angesehen hat. Sie hatte es ihm verboten.«
Der Rauch der Bienenwachskerzen, der von dem Leuchter vor der Statue aufstieg, vernebelte Arnaus Sicht, und die steinernen Lippen lächelten.
»Sie wird deine Mutter sein«, erklärte er und drehte sich zu Joan um.
»Woher weißt du das? Du hast doch gesagt, dass sie durch die Vögel …«
»Ich weiß es eben«, unterbrach Arnau ihn unwirsch.
»Und wenn ich sie frage …«
»Nein«, fiel ihm Arnau erneut ins Wort.
Joan sah zu der steinernen Figur. Er wollte auch mit ihr sprechen können, wie Arnau es tat. Weshalb hörte sie ihn nicht an, seinen Bruder aber wohl? Wie konnte Arnau wissen …? Während Joan sich schwor, dass auch er eines Tages ihrer Worte würdig sein würde, hörten sie ein Geräusch.
»Pssst!«, wisperte Arnau, während er zu dem dunklen Portal hinübersah.
»Wer ist da?« Der Widerschein einer Laterne erschien in der Öffnung.
Arnau begann, in Richtung Calle del Born davonzuschleichen, von wo sie gekommen waren, doch Joan blieb wie angewurzelt stehen und starrte auf die Laterne, die sich nun bereits dem Chorumgang näherte.
»Los, lass uns verschwinden!«, flüsterte Arnau ihm zu und zog ihn mit sich.
Als sie auf die Calle del Born traten, sahen sie mehrere Laternen auf sie zukommen. Arnau blickte sich um; zu dem ersten Licht im Inneren der Kirche waren weitere hinzugekommen.
Es gab keinen Ausweg. Die Wächter sprachen miteinander und riefen einander etwas zu. Was sollten sie bloß tun? Das Gerüst! Arnau stieß Joan zu Boden. Der Kleine war wie gelähmt. Das Gerüst war seitlich offen. Er gab Joan erneut einen Schubs, und die beiden krochen darunter, bis sie die Grundmauern der Kirche erreichten. Joan presste sich gegen die Steinquader. Die Lichter wanderten an dem Gerüst entlang. Die Schritte der Wächter auf den Holzbrettern hallten Arnau in den Ohren und ihre Stimmen übertönten das Pochen seines Herzens.
Sie warteten ab, während die Männer sich in der Kirche umsahen. Es erschien ihnen eine Ewigkeit! Arnau spähte nach oben und versuchte herauszufinden, was dort geschah, doch jedes Mal, wenn ein Lichtstrahl durch die Bretterritzen fiel, duckte er sich noch tiefer.
Schließlich gaben die Wächter auf. Zwei von ihnen blieben auf dem Gerüst stehen und leuchteten von dort aus die Umgebung ab. Wie war es möglich, dass sie sein Herz nicht pochen hörten? Und das von Joan. Die Männer stiegen von dem Gerüst. Doch wo war Joan überhaupt? Arnau sah zu der Stelle hinüber, wo der Kleine gekauert hatte. Einer der Wächter hängte eine Laterne an das Gerüst, der andere verschwand in der Dunkelheit. Joan war nicht mehr da! Wo mochte er nur stecken? Arnau kroch zu der Stelle, an der das Gerüst an das Fundament der Kirche stieß. Er tastete mit der Hand im Dunkeln. Dort war eine Öffnung, ein schmaler Gang, der sich in der Mauer öffnete.
Von Arnau vorwärtsgestoßen, war Joan unter das Gerüst gekrochen. Nichts hatte sich ihm in den Weg gestellt, und der Junge war weitergekrochen, durch die Öffnung und in den Gang, der leicht abschüssig in Richtung Hauptaltar führte. Durch das Geräusch, mit dem sein Körper an den Wänden des Gangs entlangschleifte, konnte er nichts hören, aber Arnau musste direkt hinter ihm sein. Erst als sich der enge Tunnel weitete und er sich umdrehen, ja sogar hinknien konnte, hatte Joan bemerkt, dass er alleine war. Wo befand er sich? Es war stockfinster.