»Arnau?«, rief er.
Seine Stimme hallte in seinem Kopf wider. Es war … es war wie in einer Höhle. Eine Höhle unter der Kirche!
Er rief erneut, immer wieder. Zuerst leise, dann immer lauter, doch seine eigene Stimme erschreckte ihn. Er konnte versuchen zurückzukriechen. Doch wo war der Tunnel? Joan streckte die Arme aus, aber seine Hände griffen ins Leere. Er war zu weit gekrochen.
»Arnau!«, rief er erneut.
Nichts. Er begann zu weinen. Was befand sich wohl an diesem Ort? Ungeheuer? Und wenn er in der Hölle war? Er befand sich unter einer Kirche – hieß es nicht, die Hölle sei dort unten? Und wenn nun der Teufel erschien?
Arnau kroch in den Gang. Joan konnte nur dort sein. Niemals hätte er sein Versteck unter dem Gerüst verlassen. Nachdem er ein Stück zurückgelegt hatte, rief er nach seinem Freund. Draußen konnte man ihn unmöglich hören. Nichts. Er kroch weiter.
»Joanet!« rief er, dann verbesserte er sich: »Joan!«
»Hier«, hörte er ihn antworten.
»Wo ist hier?«
»Am Ende des Tunnels.«
»Alles in Ordnung?«
Joan hörte auf zu zittern.
»Ja.«
»Dann komm her.«
»Ich kann nicht.« Arnau seufzte. »Hier ist so eine Art Höhle, und ich weiß nicht mehr, wo der Ausgang ist.«
»Taste dich an den Wänden entlang, bis du … oder nein!«, korrigierte sich Arnau sofort. »Tu das nicht, hörst du, Joan? Es könnte noch weitere Gänge geben. Wenn ich es bis dorthin schaffe … Sieht man etwas, Joan?«
»Nein«, antwortete der Kleine.
Er konnte sich weitertasten, bis er ihn fand – aber wenn er sich ebenfalls verirrte? Ah! Jetzt wusste er, wie er es schaffen könnte. Er brauchte Licht. Mit einer Laterne würden sie zurückfinden.
»Warte dort auf mich! Hörst du, Joan? Bleib ganz ruhig und rühr dich nicht von der Stelle! Hörst du?«
»Ja. Was hast du vor?«
»Ich hole eine Laterne und komme dann zurück. Warte hier auf mich und rühr dich nicht vom Fleck, verstanden?«
»Ja«, antwortete Joan zögerlich.
»Denk daran, direkt über dir ist die Jungfrau, deine Mutter.« Arnau hörte keine Antwort. »Joan, hast du mich gehört?«
Natürlich hatte er ihn gehört. »Deine Mutter«, hatte er gesagt. Aber er hatte ihn nicht mit ihr reden lassen. Und wenn Arnau seine Mutter nicht teilen wollte und ihn hier in der Hölle eingesperrt hatte?
»Joan?«, vergewisserte sich Arnau.
»Was?«
»Warte auf mich, und rühr dich nicht vom Fleck!«
Mühsam robbte Arnau rückwärts, bis er sich wieder unter dem Gerüst an der Calle del Born befand. Ohne lange zu überlegen, nahm er die Laterne, die der Wächter dort aufgehängt hatte, und verschwand wieder in dem Tunnel.
Joan sah das Licht näher kommen. Arnau drehte die Flamme höher, als die Seitenwände zurückwichen. Sein Freund kniete einige Schritte vom Ausgang entfernt und sah ihn ängstlich an.
»Hab keine Angst«, versuchte ihn Arnau zu beruhigen.
Arnau hielt die Laterne hoch und drehte die Flamme noch höher. Was war das …? Ein Friedhof! Sie befanden sich auf einem Friedhof. Eine kleine Höhle, die aus irgendeinem Grund unter Santa María überdauert hatte wie eine Luftblase. Die Decke war so niedrig, dass sie nicht einmal aufrecht stehen konnten. Arnau leuchtete auf mehrere große Amphoren, ähnlich den Krügen, die er in Graus Werkstatt gesehen hatte, nur grober gearbeitet. Einige waren zerbrochen und gaben den Blick auf die Gerippe frei, die sich darin befanden. Andere waren unversehrt: große Amphoren, die aus zwei aufeinanderliegenden, versiegelten Hälften bestanden.
Joan starrte zitternd auf eines der Skelette.
»Ganz ruhig«, sagte Arnau und wollte zu ihm gehen. Doch Joan wich hastig zurück.
»Was ist …?«, fragte Arnau.
»Lass uns von hier verschwinden«, bat Joan.
Ohne eine Antwort abzuwarten, kroch er in den Tunnel, und Arnau folgte ihm. Als sie das Gerüst erreichten, erlosch die Laterne. Es war niemand zu sehen. Arnau hängte die Laterne wieder an ihren Platz und sie kehrten zu Peres Haus zurück.
»Kein Wort darüber, einverstanden?«, sagte er unterwegs zu Joan.
Joan gab keine Antwort.
14
Seit Arnau beteuert hatte, dass die Jungfrau nun auch seine Mutter sei, lief Joan in jeder freien Minute zur Kirche. Er umklammerte das Gitter vor der Sakramentskapelle, schob den Kopf zwischen die Stäbe und betrachtete die steinerne Figur mit dem Kind auf der Schulter und dem Schiff zu ihren Füßen.
»Irgendwann wirst du mit dem Kopf stecken bleiben«, sagte Pater Albert einmal zu ihm.
Joan zog den Kopf hervor und lächelte. Der Priester legte ihm die Hand auf die Schulter und beugte sich zu ihm hinunter.
»Liebst du sie?«, fragte er ihn und deutete ins Innere der Kapelle.
Joan zögerte.
»Sie ist jetzt meine Mutter«, antwortete er, mehr aus dem Wunsch als aus der Gewissheit heraus.
Pater Albert hatte einen Kloß im Hals. Es gab so vieles, was er dem Jungen über die heilige Jungfrau erzählen konnte! Er versuchte, etwas zu sagen, brachte aber keinen Ton heraus. Er umarmte den Kleinen und wartete, dass seine Stimme zurückkehrte.
»Betest du zu ihr?«, fragte er, als er sich wieder gefasst hatte.
»Nein. Ich spreche nur mit ihr.« Pater Albert sah ihn fragend an. »Ich erzähle ihr von mir.«
Der Priester betrachtete die Madonna.
»Nur weiter so, mein Sohn, nur weiter so«, setzte er hinzu, dann ließ er ihn allein.
Es war nicht schwer. Pater Albert fasste drei oder vier Kandidaten ins Auge und entschied sich schließlich für einen reichen Silberschmied. Bei der letzten Jahresbeichte war der Handwerker sehr zerknirscht gewesen wegen mehrerer ehebrecherischer Beziehungen, die er unterhalten hatte.
»Wenn du seine Mutter bist«, murmelte Pater Albert und richtete den Blick gen Himmel, »wird es dich nicht stören, dass ich diese kleine List für deinen Sohn anwende, nicht wahr?«
Der Silberschmied wagte es nicht, nein zu sagen.
»Es handelt sich lediglich um eine kleine Spende an die Domschule«, erklärte ihm der Pfarrer. »Du hilfst damit einem Jungen, und Gott … nun, Gott wird es dir vergelten.«
Er musste nur noch mit Bernat reden. Pater Albert machte sich auf die Suche nach ihm.
»Ich habe erreicht, dass man Joanet an der Domschule aufnimmt«, erklärte er ihm, während sie unweit von Peres Haus am Strand entlangspazierten.
Bernat sah den Priester an.
»Ich habe nicht genug Geld, Pater«, sagte er entschuldigend.
»Es wird dich nichts kosten.«
»Ich dachte, die Schulen …«
»Ja, aber das gilt für die städtischen Schulen. In der Domschule genügt es …« Wozu es ihm erklären? »Nun, ich habe es jedenfalls erreicht.«
Die beiden spazierten weiter.
»Er wird Lesen und Schreiben lernen, zuerst in Fibeln, später auch Psalmen und Gebete.«
Weshalb sagte Bernat nichts?
»Mit dreizehn Jahren kann er in die Oberschule übertreten und Latein und die sieben freien Künste erlernen: Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie.«
»Pater«, wandte Bernat ein, »Joanet hilft im Haushalt, sodass Pere mir einen Esser weniger berechnet. Wenn der Junge nun zur Schule geht …«
»Er wird in der Schule beköstigt werden.«
Bernat sah ihn an und wiegte den Kopf, als dächte er darüber nach.
»Außerdem«, fügte der Priester hinzu, »habe ich bereits mit Pere gesprochen, und er ist damit einverstanden, dir auch in Zukunft denselben Preis zu berechnen.«
»Ihr habt Euch sehr für den Jungen eingesetzt.«
»Ja. Hast du etwas dagegen?« Bernat verneinte lächelnd. »Stell dir vor, Joanet könnte schließlich sogar zur Universität gehen, zur Hochschule in Lérida oder sogar an eine ausländische Universität, nach Bologna, Paris …«