»Der heilige Gregor sagt, dass ursprünglich alle Menschen gleich geboren wurden und folglich alle frei waren.« Joan sprach mit ruhiger, gleichmütiger Stimme, so als sagte er eine Lektion auf. »Es waren freie Menschen, die sich zu ihrem eigenen Wohl einem Herrn unterwarfen, damit dieser für sie sorge. Sie verloren einen Teil ihrer Freiheit, doch sie gewannen einen Herrn, der seine schützende Hand über sie hielt.«
Arnau sah zur Jungfrau auf, während er seinem Bruder zuhörte. Weshalb lächelte sie nicht? Hatte der heilige Gregor wohl auch eine leere Börse, so wie sein Vater?
»Joan?«
»Ja?«
»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«
»Du selbst musst die Entscheidung treffen.«
»Aber was denkst du?«
»Das habe ich dir bereits gesagt. Es waren freie Menschen, die die Entscheidung trafen, sich einen Herrn zu suchen, damit er für sie sorge.«
Noch am selben Tag wurde Arnau in Grau Puigs Haus vorstellig, ohne dass sein Vater davon wusste. Er ging durch die Küche, um nicht von den Stallungen aus gesehen zu werden. Dort traf er Estranya an. Sie war dick wie eh und je, als beträfe sie der Hunger nicht. Plump wie eine Ente stand sie vor einem Topf, der über dem Feuer hing.
»Sag deinen Herrschaften, dass ich gekommen bin, um mit ihnen zu sprechen«, sagte er, als die Köchin ihn bemerkte.
Ein dummes Lächeln erschien auf dem Gesicht der Sklavin. Estranya sagte Graus Hausverwalter Bescheid und dieser informierte seinen Herrn. Sie ließen ihn stundenlang warten. Unterdessen defilierte das gesamte Personal durch die Küche, um Arnau in Augenschein zu nehmen. Einige grinsten, anderen – den wenigsten – war eine gewisse Traurigkeit darüber anzumerken, dass er klein beigab. Arnau hielt den Blicken stand und begegnete jenen, die ihn angrinsten, mit Hochmut. Doch es gelang ihm nicht, den Spott aus ihren Gesichtern zu löschen.
Nur Bernat fehlte, obwohl Tomás, der Stallbursche, ihm sofort Bescheid gab, dass sein Sohn gekommen war, um sich zu entschuldigen. »Es tut mir leid, Arnau, es tut mir leid«, murmelte Bernat immer wieder, während er eines der Pferde striegelte.
Nachdem er lange gewartet hatte – seine Beine schmerzten ihn von dem langen Stehen, da Estranya ihm verboten hatte, sich hinzusetzen –, wurde Arnau in den großen Salon der Graus geführt. Er hatte keine Augen für den Luxus, mit dem das Haus eingerichtet war. Gleich beim Eintreten richtete sich sein Blick auf die fünf Familienmitglieder, die dort auf ihn warteten. Baron und Baronin saßen, seine drei Cousins standen daneben. Die Männer trugen kostbare, farbige Seidenhosen und knielange, mit goldenen Schärpen gegürtete Wämser, die Frauen perlen- und edelsteinbestickte Kleider.
Der Hausverwalter führte Arnau in die Mitte des Raumes, einige Schritte von der Familie entfernt. Dann begab er sich wieder zur Tür, wo er auf Graus Anweisung hin stehen blieb.
»Sprich«, sagte Grau, reglos wie stets.
»Ich bin gekommen, um Euch um Entschuldigung zu bitten.«
»Dann tu es.«
Arnau wollte zum Sprechen ansetzen, doch die Baronin fuhr ihm ins Wort.
»So gedenkst du dich zu entschuldigen? Stehend?«
Arnau zögerte einige Sekunden, doch schließlich beugte er ein Knie. Margaridas blödes Kichern hallte durch den Raum.
»Ich bitte Euch alle um Verzeihung«, sagte Arnau, während er die Baronin direkt ansah.
Die Frau durchbohrte ihn mit Blicken.
»Ich mache es nur für meinen Vater«, sagte Arnaus Miene.
»Die Füße!«, kreischte die Baronin. »Küss uns die Füße!«
Arnau wollte sich erheben, doch die Baronin hinderte ihn daran.
»Auf die Knie!«, brüllte sie durch den ganzen Salon.
Arnau gehorchte und rutschte auf den Knien zu ihnen. Nur für meinen Vater. Nur für meinen Vater. Ich tue es nur für meinen Vater … Die Baronin hielt ihm ihre seidenen Pantoffeln hin und Arnau küsste sie, zuerst den linken, dann den rechten. Ohne hochzusehen rutschte er hinüber zu Grau. Der zögerte, als der Junge vor ihm kniete, den Blick starr auf seine Füße geheftet. Doch als seine Frau ihn wutentbrannt ansah, hob er sie nacheinander zum Mund des Jungen. Arnaus Cousins taten es ihren Eltern nach. Arnau versuchte den seidenen Pantoffel zu küssen, den Margarida ihm entgegenstreckte, doch als seine Lippen den Schuh berühren wollten, zog sie ihn weg und kicherte. Arnau versuchte es erneut, und wieder lachte seine Cousine ihn aus. Schließlich wartete sie, bis der Junge seinen Mund auf den Pantoffel presste, erst den einen, dann den anderen.
15
Barcelona
15. April 1334
Bernat zählte die Münzen, die Grau ihm ausbezahlt hatte, und tat sie, vor sich hin murmelnd, in die Geldbörse. Sie müssten eigentlich ausreichen, aber … diese verfluchten Genuesen! Wann würde die Belagerung enden, unter der das Prinzipat litt? Barcelona hungerte.
Bernat befestigte die Börse an seinem Gürtel und machte sich auf die Suche nach Arnau. Der Junge war abgemagert. Bernat sah ihn besorgt an. Es war ein harter Winter gewesen. Aber zumindest hatten sie ihn überstanden. Wie viele konnten das von sich behaupten? Bernat presste die Lippen aufeinander und strich seinem Sohn übers Haar. Dann legte er ihm die Hand um die Schulter. Wie viele Kinder waren an Kälte, Hunger und Krankheiten gestorben? Wie viele Väter konnten nun noch die Hand um die Schultern ihrer Söhne legen? »Zumindest bist du am Leben«, dachte er.
An diesem Tag lief ein Schiff mit Weizen im Hafen von Barcelona ein, eines der wenigen, denen es gelungen war, den Belagerungsring der Genuesen zu durchbrechen. Das Getreide wurde von der Stadt zu astronomischen Summen aufgekauft, um es dann zu einem bezahlbaren Preis an die Bewohner weiterzugeben. An diesem Freitag gab es Weizen auf der Plaza del Blat. Seit den frühen Morgenstunden strömten die Menschen herbei und machten sich die Plätze streitig, um zuzusehen, wie die Beamten das Korn abmaßen.
Trotz der Bemühungen der Ratsherren, ihn zum Schweigen zu bringen, predigte seit einigen Monaten ein Karmelitermönch gegen die Mächtigen. Er warf ihnen vor, die Hungersnot verursacht zu haben, und beschuldigte sie, heimlich Getreide zu horten. Die Brandreden des Mönchs hatten Eindruck auf die Gläubigen gemacht und die Gerüchte verbreiteten sich in der ganzen Stadt. An diesem Freitag versammelten sich immer mehr Menschen auf der Plaza del Blat. Sie diskutierten und drängten sich vor den Ständen, an denen die städtischen Beamten mit dem Getreide hantierten.
Die Behörden berechneten die Menge an Korn, die jedem Barcelonesen zustand, und betrauten den Marktaufseher der Plaza del Blat mit der Überwachung des Verkaufs.
»Mestre hat gar keine Familie!«, wurden wenige Minuten nach dem Beginn des Verkaufs die ersten Rufe laut. Sie galten einem zerlumpten Mann, der in Begleitung eines noch abgerisseneren Jungen war. »Sie sind alle während des Winters gestorben.«
Die Beamten nahmen Mestre das Getreide wieder weg, doch immer neue Beschuldigungen waren zu hören: Der da habe einen Sohn an einem anderen Stand anstehen. Jener habe bereits gekauft. Dieser habe keine Familie. Das sei nicht sein Sohn. Er habe ihn nur mitgebracht, um mehr zu bekommen …
Der Platz verwandelte sich in eine Gerüchteküche. Die Menschenschlangen lösten sich auf, es kam zu Auseinandersetzungen, und aus Argumenten wurden Beschimpfungen. Jemand verlangte lautstark, dass die Obrigkeit das heimlich gehortete Getreide verkaufen sollte, und das wütende Volk stimmte in die Forderung mit ein. Die Beamten sahen sich einer zahlenmäßig überlegenen Menge gegenüber, die sich vor den Verkaufsständen drängte. Die Büttel des Königs begannen, gegen die hungernden Menschen vorzugehen, und nur eine rasche Entscheidung des Marktaufsehers rettete die Lage. Er ordnete an, das Getreide in den Palast des Stadtrichters am östlichen Ende des Platzes zu bringen, und setzte den Verkauf für den Vormittag aus.
Enttäuscht darüber, das begehrte Lebensmittel nicht bekommen zu haben, kehrten Bernat und Arnau zu Graus Haus zurück, um sich wieder an die Arbeit zu machen. Noch im Hofeingang, gegenüber den Stallungen, erzählten sie dem Stallmeister und jedem, der es hören wollte, was auf der Plaza del Blat vorgefallen war. Beide hielten sich nicht mit Schmähungen gegenüber den Behörden zurück und beklagten sich über den Hunger, den sie litten.