Angelockt von dem Geschrei, stand die Baronin an einem der Fenster zum Hof und ergötzte sich an der Not des flüchtigen Leibeigenen und seines unverschämten Sohnes. Während sie die beiden beobachtete, huschte ein Lächeln über ihre Lippen bei dem Gedanken an die Anweisungen, die Grau ihr gegeben hatte, bevor er auf eine Reise aufgebrochen war. Er hatte doch gewollt, dass seine Schuldner etwas zu essen hatten?
Die Baronin nahm die Börse mit dem Geld, das für die Ernährung der Gefangenen bestimmt war, die als Schuldner ihres Mannes im Gefängnis saßen, ließ den Hausverwalter rufen und trug ihm auf, Bernat Estanyol mit dieser Aufgabe zu betrauen. Für den Fall, dass es Schwierigkeiten gab, sollte er seinen Sohn Arnau mitnehmen.
»Erinnere sie daran, dass dieses Geld dafür bestimmt ist, Getreide für die Gefangenen meines Mannes zu kaufen«, sagte sie, während der Bedienstete verschwörerisch lächelte.
Der Hausverwalter gab die Anweisungen seiner Herrin weiter und ergötzte sich an den ungläubigen Mienen von Vater und Sohn. Dieser schaute noch fassungsloser drein, als er den Beutel nahm und die Münzen abwägte, die sich darin befanden.
»Für die Gefangenen?«, fragte Arnau seinen Vater, als sie den Palast der Puigs verlassen hatten.
»Ja.«
»Warum für die Gefangenen, Vater?«
»Sie sind im Gefängnis, weil sie Grau Geld schulden, und dieser ist verpflichtet, für ihre Verpflegung aufzukommen.«
»Und wenn er es nicht täte?«
Sie gingen weiter in Richtung Strand.
»Dann kämen sie frei und das will Grau nicht. Er zahlt die Abgaben an den König, er zahlt den Kerkermeister und er zahlt das Essen für die Gefangenen. So ist das Gesetz.«
»Aber …«
»Lass es gut sein, mein Junge, lass es gut sein.«
Die beiden gingen schweigend nach Hause.
An diesem Abend machten sich Arnau und Bernat auf den Weg zum Gefängnis, um ihren sonderbaren Auftrag zu erfüllen. Von Joan, der auf dem Heimweg von der Domschule zu Peres Haus die Plaza del Blat überqueren musste, erfuhren sie, dass sich die Gemüter nicht beruhigt hatten. Schon in der Calle del la Mar, die, von Santa María kommend, auf den Platz mündete, hörten sie das Geschrei der Menge. Eine Menschenmenge hatte sich vor dem Palast des Stadtrichters zusammengerottet, wo sich das Getreide befand, das am Morgen in Sicherheit gebracht worden war, und wo auch Graus Schuldner in Haft saßen.
Die Menschen forderten die Herausgabe des Getreides, doch die Behörden Barcelonas verfügten nicht über die nötigen Mittel für eine geordnete Ausgabe. Die fünf Ratsherren, die mit dem Stadtrichter zusammensaßen, versuchten, eine Lösung zu finden.
»Sie sollen schwören«, sagte einer. »Ohne Schwur kein Getreide. Jeder Käufer soll schwören, dass die Menge, die er verlangt, für den Unterhalt seiner Familie benötigt wird und dass er nicht mehr fordert, als ihm bei der Zuteilung zusteht.«
»Ob das genügen wird?«, zweifelte ein anderer.
»Der Schwur ist heilig!«, entgegnete der erste. »Schließlich werden auch Verträge, Unschuldsbeteuerungen oder Verpflichtungen mit einem Schwur besiegelt.«
So wurde es von einem Fenster des stadtrichterlichen Palasts aus verkündet. Die Neuigkeit sprach sich herum bis hin zu denen, zu denen die Verlautbarung nicht durchgedrungen war, und die gläubigen Christen, die sich auf dem Platz drängten, um Getreide zu fordern, machten sich bereit zu schwören.
Das Getreide wurde auf den Platz zurückgebracht. Einige leisteten ihren Schwur. Andere waren misstrauisch, wieder wurden Vorwürfe laut, und es kam zu lauten Auseinandersetzungen. Das Volk empörte sich erneut und forderte die Herausgabe des Getreides, das die Behörden dem Karmelitermönch zufolge versteckt hielten.
Arnau und Bernat standen immer noch an der Einmündung der Calle de la Mar gegenüber dem Palast des Stadtrichters, wo der Verkauf des Getreides begonnen hatte.
»Papa«, fragte Arnau, »wird noch Getreide für uns übrig bleiben?«
»Ich hoffe es, mein Junge.«
Bernat versuchte, seinen Sohn nicht anzusehen. Wie sollte etwas für sie übrig bleiben? Das Getreide würde nicht einmal für ein Viertel der Bevölkerung reichen.
»Vater«, sagte Arnau, »warum bekommen die Gefangenen Getreide und wir nicht?«
Bernat tat, als hätte er in dem Lärm die Frage nicht gehört. Aber er sah seinen Sohn an: Er war ausgehungert, seine Arme und Beine waren streichholzdünn, und aus seinem ausgezehrten Gesicht standen die großen Augen hervor, die früher so sorglos gelächelt hatten.
»Vater, habt Ihr gehört?«
»Ja«, dachte Bernat, »aber was soll ich dir antworten? Dass wir Armen im Hunger vereint sind? Dass nur die Reichen essen können? Dass nur die Reichen es sich erlauben können, ihre Schuldner durchzufüttern? Dass wir Armen für sie nichts wert sind? Dass die Kinder der Armen weniger wert sind als einer der Gefangenen im Palast des Stadtrichters?«
Bernat gab keine Antwort.
»Es gibt Getreide im Palast!«, stimmte er in die Rufe des Volkes ein. »Es gibt Getreide im Palast!«, rief er noch lauter, als die Umstehenden verstummten und sich zu ihm umwandten. Bald waren es viele, die diesen Mann anstarrten, der behauptete, dass es im Palast Getreide gebe.
»Wie sollten die Gefangenen sonst essen können?«, rief er und hielt Graus Geldbörse hoch. »Die Adligen und die Reichen zahlen für das Essen der Gefangenen! Woher haben die Kerkermeister das Getreide für die Gefangenen? Gehen sie es vielleicht kaufen, so wie wir?«
Die Menge wich auseinander, um Bernat durchzulassen, der wie von Sinnen war. Arnau lief hinter ihm her und versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erhaschen.
»Vater, was macht Ihr da?«
»Müssen die Kerkermeister etwa schwören, so wie ihr?«
»Was ist mit Euch los, Vater?«
»Woher haben die Kerkermeister das Getreide für die Gefangenen? Warum können wir unsere Kinder nicht ernähren, während die Gefangenen durchgefüttert werden?«
Bernats Worte brachten die Menge noch mehr auf. Diesmal konnten die Beamten das Getreide nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen. Die Menge stürzte sich auf sie. Der Marktaufseher und der Stadtrichter wurden beinahe gelyncht. Sie verdankten ihr Leben einigen Gerichtsdienern, die sich vor sie stellten und sie in den Palast brachten.
Nur wenige bekamen die begehrte Ware. Das Getreide wurde auf dem Platz verstreut und von der Menge zertreten, während einige vergeblich versuchten, es aufzusammeln, bevor sie selbst von ihren Mitbürgern niedergetrampelt wurden.
Jemand schrie, dass der Rat an allem schuld sei, und die Menge zerstreute sich auf der Suche nach den Ratsherren der Stadt, die sich in ihren Häusern verschanzten.
Auch Bernat war von dem kollektiven Wahn erfasst und schrie aus voller Kehle, während er sich von der aufgebrachten Menge mitreißen ließ.
»Vater! Vater!«
Bernat sah seinen Sohn an.
»Was machst du hier?«, fragte er, während er weiterlief und immer wieder in die Schreie einstimmte.
»Ich … Was ist mit Euch los, Vater?«
»Verschwinde! Kinder haben nichts hier verloren.«
»Wohin soll ich …«
»Hier, nimm!«
Bernat übergab ihm zwei Geldbörsen, seine eigene und die mit dem Geld für die Gefangenen.
»Was soll ich damit?«, fragte Arnau.
»Geh, mein Junge. Geh.«
Arnau sah, wie sein Vater in der Menge verschwand. Das Letzte, was er von ihm sah, war der Hass in seinen Augen.
»Wohin geht Ihr, Vater?«, schrie er, als er ihn bereits aus den Augen verloren hatte.
»Er sucht die Freiheit«, antwortete ihm eine Frau, die gleichfalls beobachtete, wie sich die Menge in die Straßen der Stadt ergoss.
»Wir sind schon frei«, wagte Arnau zu sagen.