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»Es gibt keine Freiheit, wenn man hungert, mein Sohn«, erklärte die Frau.

Weinend kämpfte sich Arnau gegen den Strom durch die Menge.

Die Aufstände dauerten zwei ganze Tage. Die Häuser der Ratsherren und viele andere Adelshäuser wurden geplündert. Das aufgebrachte Volk zog wütend durch die Straßen, zuerst auf der Suche nach Essen, später auf der Suche nach Rache.

Zwei ganze Tage herrschte angesichts der ohnmächtigen Stadtherren Chaos in Barcelona, bis ein Gesandter König Alfons', mit ausreichenden Truppen ausgestattet, den Aufstand niederschlug. Hundert Männer wurden festgenommen und viele andere mit Geldstrafen belegt. Von diesen hundert wurden zehn nach einem Eilprozess gehenkt. Unter den aufgerufenen Zeugen waren nur wenige, die in Bernat Estanyol mit seinem Muttermal neben dem rechten Auge nicht einen der Rädelsführer des Bürgeraufstands auf der Plaza del Blat wiedererkannten.

16

Arnau rannte die Calle de la Mar hinunter bis zu Peres Haus, ohne der Kirche Santa María auch nur einen Blick zu schenken. Die Augen seines Vaters hatten sich in ihm eingebrannt und seine Schreie hallten immer noch in seinen Ohren wider. Noch nie hatte er ihn so gesehen. »Was ist los mit Euch, Vater? Stimmt es, dass wir nicht frei sind, wie diese Frau behauptet?« Er betrat Peres Haus, und ohne irgendjemandem Beachtung zu schenken, verschwand er in seinem Zimmer. Dort fand Joan ihn weinend vor.

»Die Stadt ist verrückt geworden«, sagte er, als er die Zimmertür öffnete. »Was hast du?«

Arnau gab keine Antwort. Sein Bruder blickte sich um.

»Und Vater?«

Arnau schniefte und machte eine Handbewegung in Richtung Stadt.

»Er ist dabei?«, fragte Joan weiter.

»Ja«, brachte Arnau mühsam heraus.

Joan dachte an die Unruhen, denen er auf dem Weg vom Bischofspalast nach Hause ausweichen musste. Die Soldaten hatten die Tore zum Judenviertel geschlossen und sich davor postiert, um zu verhindern, dass es von der Menge gestürmt wurde. Diese hatte sich nun darauf verlegt, die Häuser der Christen zu plündern. Wie konnte Bernat sich unter ihnen befinden? Bilder von entfesselten Horden, die die Türen der Wohlhabenden aufbrachen und mit deren Besitz beladen wieder herauskamen, kehrten Joan ins Gedächtnis zurück. Es konnte einfach nicht sein.

»Das kann nicht sein«, wiederholte er laut. Arnau sah von der Matratze, auf der er saß, zu ihm hoch. »Bernat ist nicht wie sie. Wie ist das möglich?«

»Ich weiß es nicht. Da waren viele Leute. Alle schrien …«

»Aber … Bernat? Bernat ist zu so etwas nicht fähig. Vielleicht hat er nur … Ich weiß nicht, vielleicht hat er nur versucht, jemanden zu finden!«

Arnau sah Joan an. Wie sollte er ihm sagen, dass es Bernat gewesen war, der am lautesten geschrien hatte und die Leute aufwiegelte? Wie sollte er ihm das sagen, wo er es doch selbst nicht glauben konnte?

»Ich weiß es nicht, Joan. Da waren so viele Leute.«

»Sie plündern, Arnau! Sie greifen die Ratsherren der Stadt an.«

An diesem Abend warteten die Jungen vergeblich auf ihren Vater. Am nächsten Morgen machte sich Joan bereit, zum Unterricht zu gehen.

»Du solltest nicht gehen«, riet ihm Arnau.

Joan ging trotzdem.

»Die Soldaten von König Alfons haben den Aufstand niedergeschlagen«, erzählte Joan knapp, als er in Peres Haus zurückkehrte.

Auch in dieser Nacht kam Bernat nicht zum Schlafen nach Hause.

Am Morgen verabschiedete sich Joan erneut von Arnau.

»Du solltest mal aus dem Haus gehen«, sagte er zu ihm.

»Und wenn er zurückkommt? Er kann nur hierhin kommen«, erklärte Arnau, und seine Stimme versagte.

Die beiden Brüder umarmten sich. »Wo seid Ihr, Vater?«

Pere machte sich auf die Suche nach Neuigkeiten. Sie zu erhalten war nicht so schwer wie der Weg zurück nach Hause.

»Es tut mir leid, Junge«, sagte er zu Arnau. »Dein Vater wurde festgenommen.«

»Wo ist er jetzt?«

»Im Palast des Stadtrichters, aber …«

Arnau war bereits losgerannt. Pere sah seine Frau an und schüttelte dann den Kopf. Die alte Frau schlug die Hände vors Gesicht.

»Es waren Eilprozesse«, erklärte ihr Pere. »Eine ganze Menge Zeugen haben in Bernat mit seinem Muttermal den Rädelsführer des Aufstands wiedererkannt. Warum hat er das nur gemacht? Offenbar …«

»Weil er zwei Kinder zu versorgen hat«, fiel ihm seine Frau ins Wort. Tränen standen in ihren Augen.

»Er hatte«, korrigierte Pere mit müder Stimme. »Sie haben ihn und neun weitere Aufrührer auf der Plaza del Blat gehängt.«

Mariona schlug erneut die Hände vors Gesicht, ließ sie dann aber plötzlich sinken.

»Arnau«, rief sie und lief zur Tür, blieb jedoch auf halbem Wege stehen, als sie die Worte ihres Mannes hörte: »Lass ihn, Frau. Von heute an wird er kein Kind mehr sein.«

Mariona nickte langsam. Pere nahm sie in die Arme.

»Lass mich zumindest dem Priester Bescheid geben«, bat Mariona.

»Das habe ich bereits getan. Er wird dort sein.«

Die Hinrichtungen waren auf ausdrücklichen Befehl des Königs sofort vollstreckt worden. Es war nicht einmal Zeit gewesen, ein Gerüst zu errichten. Die Verurteilten waren auf einfachen Karren hingerichtet worden.

Als Arnau die Plaza del Blat erreichte, blieb er abrupt stehen. Er keuchte. Der Platz war voller Menschen. Sie standen mit dem Rücken zu ihm und betrachteten schweigend zehn leblose Körper, die über den Köpfen der Leute vor dem Palast baumelten.

»Nein! Vater!«

Der Schrei hallte über den ganzen Platz. Die Leute drehten sich zu ihm um. Arnau ging langsam durch die Menge, die ihm Platz machte. Er sah sich die zehn Männer genau an …

Arnau übergab sich, als er den Leichnam seines Vaters entdeckte. Die Leute ringsum traten einen Schritt zurück. Der Junge betrachtete noch einmal das aufgedunsene, bläulich-schwarz verfärbte Gesicht. Bernats Kopf war zur Seite gefallen, die Gesichtszüge verzerrt, die weit aufgerissenen Augen waren aus den Höhlen getreten, und die Zunge hing schlaff zwischen den Lippen. Als Arnau ihn zum zweiten und dritten Mal ansah, spuckte er nur noch Galle.

Arnau bemerkte, wie sich ein Arm um seine Schultern legte.

»Lass uns gehen, mein Sohn«, sagte Pater Albert zu ihm.

Der Priester versuchte ihn in Richtung Santa María zu ziehen, doch Arnau rührte sich nicht von der Stelle. Er betrachtete erneut seinen Vater, dann schloss er die Augen. Er würde nie wieder Hunger leiden. Der Junge krümmte sich unter Krämpfen zusammen. Pater Albert versuchte noch einmal, ihn von dem makabren Schauspiel wegzuziehen.

»Lasst mich, Pater. Bitte.«

Unter den Blicken des Priesters und der übrigen Anwesenden legte Arnau schwankend die wenigen Schritte zurück, die ihn von dem improvisierten Blutgerüst trennten. Er presste die Hände auf den Magen und zitterte am ganzen Körper. Als er vor seinem Vater stand, blickte er zu einem der Soldaten, die bei den Gehenkten Wache hielten.

»Kann ich ihn abnehmen?«, fragte er ihn.

Der Soldat zögerte angesichts des Blicks dieses Jungen, der dort vor dem Leichnam seines Vaters stand und zu diesem hinaufdeutete. Was hätten seine Söhne getan, wenn man ihn gehängt hätte?

»Nein«, sagte er schließlich. Er wünschte sich, nicht dort zu sein. Lieber hätte er gegen eine ganze Maurenarmee gekämpft. Was war das für ein Tod? Dieser Mann hatte es nur für seine Kinder getan, für diesen Jungen, der ihn nun fragend ansah, wie alle Anwesenden auf dem Platz. Warum war der Stadtrichter nicht hier?

»Der Stadtrichter hat angeordnet, dass sie drei Tage hier auf der Plaza zur Schau gestellt werden«, sagte er schließlich.

»Ich werde warten.«

»Danach werden sie vor die Stadttore gebracht, wie jeder Hingerichtete in Barcelona, damit alle, die dort ein und aus gehen, das Gesetz des Stadtrichters kennenlernen.«

Der Soldat kehrte Arnau den Rücken und begann seine Runde.

»Es war der Hunger«, hörte er hinter sich. »Er hatte nur Hunger.«