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Als ihn seine sinnlose Runde erneut zu Bernat führte, saß der Junge zu Füßen seines Vaters auf der Erde. Er hatte den Kopf in die Hände gestützt und weinte. Der Soldat wagte es nicht, ihn anzusehen.

»Lass uns gehen, Arnau«, sagte der Pater, der nun wieder neben ihm stand.

Arnau schüttelte den Kopf. Pater Albert wollte etwas sagen, doch ein Schrei hielt ihn davon ab. Die Angehörigen der übrigen Gehängten begannen auf dem Platz einzutreffen. In einem fassungslosen Schweigen, das nur hin und wieder von einem schmerzlichen Aufschrei übertönt wurde, versammelten sich Mütter, Kinder und Geschwister zu Füßen der Toten. Der Soldat konzentrierte sich auf seine Runde, während er sich an den Schlachtruf der Ungläubigen zu erinnern versuchte. Joan, der auf dem Nachhauseweg über den Platz musste, sank ohnmächtig zusammen, als er das entsetzliche Schauspiel sah. Ihm blieb nicht einmal Zeit, Arnau zu entdecken, der immer noch am selben Platz saß und den Oberkörper vor- und zurückwiegte. Joans Klassenkameraden hoben ihn auf und trugen ihn zum Bischofspalast zurück. Auch Arnau sah seinen Bruder nicht.

Die Stunden vergingen, und Arnau hatte immer noch keinen Blick für die Bürger, die aus Mitleid, Neugier oder Schaulust auf die Plaza del Blat strömten. Nur die Schritte des Soldaten, der vor ihm auf und ab ging, rissen ihn aus seinen Gedanken.

»Arnau, ich habe alles aufgegeben, was ich besaß, damit du frei sein kannst«, hatte sein Vater vor nicht allzu langer Zeit zu ihm gesagt. »Ich habe unser Land verlassen, das den Estanyols über Jahrhunderte gehörte, damit niemand dir antun kann, was man mir angetan hat, meinem Vater und dem Vater meines Vaters … Und nun befinden wir uns wieder in der gleichen Lage: den Launen jener ausgeliefert, die sich adlig nennen. Aber mit einem Unterschied: Wir können uns weigern. Mein Sohn, lerne die Freiheit zu nutzen, die zu erlangen uns so viele Opfer gekostet hat. Die Entscheidung liegt nur bei dir.«

»Können wir uns wirklich weigern, Vater?« Erneut ging der Soldat an ihm vorüber. »Es gibt keine Freiheit, wenn man hungert. Ihr habt nun keinen Hunger mehr, Vater. Und Eure Freiheit?«

»Seht sie euch genau an, Kinder.«

Diese Stimme …

»Sie sind Verbrecher. Seht sie euch gut an.« Zum ersten Mal nahm Arnau die Menschen wahr, die sich vor den Leichen drängten. Die Baronin und ihre drei Stiefkinder betrachteten das aufgedunsene Gesicht von Bernat Estanyol. Arnaus Blick fiel auf Margaridas Füße. Er sah ihr ins Gesicht. Seine Cousins waren blass geworden, doch die Baronin lächelte und sah ihn direkt an. Arnau stand auf. Er zitterte.

»Sie haben es nicht verdient, Bürger Barcelonas zu sein«, hörte er Isabel sagen. Seine Fingernägel gruben sich in seine Handflächen. Sein Gesicht verzerrte sich und seine Unterlippe bebte. Die Baronin lächelte immer noch. »Was konnte man auch von einem geflohenen Leibeigenen anderes erwarten?«

Arnau wollte sich auf die Baronin stürzen, doch der Soldat stellte sich ihm in den Weg. Arnau stieß mit ihm zusammen.

»Was ist denn mit dir los, Junge?« Der Soldat folgte Arnaus Blick. »Ich würde es nicht tun«, riet er ihm. Arnau versuchte an dem Soldaten vorbeizukommen, doch dieser hielt ihn fest am Arm gepackt. Isabel lächelte nun nicht mehr, den Kopf hoch erhoben, hochmütig, herausfordernd. »Ich würde es nicht tun. Du läufst in dein Verderben«, hörte er den Mann sagen. Arnau blickte zu ihm auf. »Er ist tot, aber du lebst«, beschwor ihn der Soldat. »Setz dich wieder hin, Junge.« Der Soldat bemerkte, dass Arnaus Anspannung ein wenig nachließ. »Setz dich wieder hin«, forderte er ihn noch einmal auf.

Arnau gab nach. Der Soldat wich nicht von seiner Seite.

»Seht sie euch genau an, Kinder.« Die Baronin lächelte wieder. »Morgen kommen wir wieder. Die Gehenkten bleiben an ihrem Strick, bis sie verfaulen, so wie auch die flüchtigen Verbrecher verfaulen sollen.«

Arnau konnte nichts gegen das Beben seiner Unterlippe tun. Er starrte die Puigs an, bis die Baronin beschloss, ihm den Rücken zuzukehren.

»Eines Tages … eines Tages wirst du tot sein … Ihr alle werdet tot sein …«, schwor er sich. Arnaus Hass verfolgte die Baronin und ihre Stiefkinder über den ganzen Platz. Sie hatte gesagt, dass sie am nächsten Tag wiederkommen würde. Arnau sah zu seinem Vater hinauf.

»Ich schwöre bei Gott, dass sie sich nicht noch einmal am Anblick meines toten Vaters ergötzen werden. Aber was kann ich tun?« Wieder sah er den Soldaten vorbeigehen. »Vater, ich werde nicht zulassen, dass Ihr an diesem Strick verfault.«

Die folgenden Stunden verbrachte Arnau damit, darüber nachzugrübeln, wie er es anstellen sollte, den Leichnam seines Vaters verschwinden zu lassen. Doch jede Idee, die ihm in den Sinn kam, scheiterte an den Stiefeln, die vor ihm auf und ab gingen. Er konnte ihn nicht vom Seil abnehmen, ohne gesehen zu werden, und nachts würden Fackeln brennen … Fackeln … Fackeln. In diesem Augenblick erschien Joan auf dem Platz. Sein Gesicht war bleich, beinahe weiß, seine Augen waren verquollen und gerötet, seine Schritte bleischwer. Arnau stand auf, und Joan kam auf ihn zu und warf sich in seine Arme.

»Arnau … ich …«, stammelte er.

»Hör mir gut zu«, unterbrach ihn Arnau, die Arme um ihn gelegt. »Und hör nicht auf zu weinen.«

»Das könnte ich gar nicht, Arnau«, dachte Joan, überrascht über den Ton seines Bruders.

»Warte heute Abend um zehn an der Ecke auf mich, wo die Calle de la Mar auf den Platz stößt. Niemand darf dich sehen. Bring eine Decke mit, die größte, die du in Peres Haus finden kannst. Und jetzt geh.«

»Aber …«

»Geh, Joan. Ich will nicht, dass die Soldaten auf dich aufmerksam werden.«

Arnau musste seinen Bruder wegstoßen, um sich aus seiner Umarmung zu befreien. Joan sah forschend in Arnaus Gesicht. Dann sah er noch einmal zu Bernat hinauf. Er zitterte.

»Jetzt geh, Joan!«, wisperte Arnau ihm zu.

Am Abend, als der Platz verwaist war und nur noch die Angehörigen zu Füßen der Gehenkten saßen, wechselte die Wache. Die neuen Soldaten gingen nicht länger vor den Toten auf und ab, sondern setzten sich rund um ein Feuer, das sie am Ende der nebeneinander aufgereihten Karren entzündet hatten. Alles war ruhig und die Nachtluft hatte sich abgekühlt. Arnau stand auf und ging an den Soldaten vorbei, wobei er sich bemühte, sein Gesicht zu verbergen.

»Ich gehe mir eine Decke holen«, sagte er.

Einer der Soldaten warf ihm einen kurzen Blick zu.

Er ging über die Plaza del Blat bis zur Einmündung der Calle de la Mar. Dort wartete er eine Weile, während er sich fragte, wo Joan steckte. Es war die vereinbarte Zeit, er hätte bereits da sein müssen. Arnau stieß einen Pfiff aus. Ringsum blieb es still.

»Joan?«, wagte er zu rufen.

Aus einem Hauseingang löste sich ein Schatten.

»Arnau?«, war in der Dunkelheit zu hören.

»Natürlich bin ich das.« Joans erleichterter Seufzer war über mehrere Meter zu hören. »Was dachtest du, wer ich bin? Warum hast du nicht geantwortet?«

»Es ist stockfinster«, entgegnete Joan.

»Hast du die Decke dabei?« Der Schatten hob ein Bündel hoch. »Gut. Ich habe ihnen gesagt, dass ich eine Decke holen gehe. Jetzt leg sie dir um und nimm meinen Platz ein. Geh auf Zehenspitzen, damit du größer aussiehst.«

»Was hast du vor?«

»Ich werde ihn verbrennen«, antwortete er, als Joan neben ihm stand. »Ich will, dass du meinen Platz einnimmst. Die Soldaten sollen glauben, dass ich es bin. Du brauchst dich nur dorthin zu setzen, wo ich gesessen habe, nichts weiter. Verhülle einfach dein Gesicht. Und rühr dich nicht von der Stelle. Du tust nichts, was auch immer du siehst und was auch immer geschieht, hast du verstanden?« Arnau wartete Joans Antwort nicht ab. »Wenn alles vorbei ist, bist du ich. Du bist Arnau Estanyol und dein Vater hatte keinen anderen Sohn. Hast du verstanden? Wenn die Soldaten dich fragen …«

»Arnau …«

»Was?«

»Ich traue mich nicht.«

»Wie bitte?«

»Ich traue mich nicht. Sie werden es bemerken. Wenn ich Vater sehe …«