Arnaus Herz schlug schneller. Warum? Die Aufgabe dieses Mannes war es, Santa María zu bewachen. Wer konnte ein Interesse daran haben …? Die Jungfrau! Die Sakramentskapelle! Die Kasse der Bastaixos!
Arnau überlegte nicht lange. Sie hatten seinen Vater hingerichtet. Er konnte nicht zulassen, dass man nun auch noch seine Mutter entweihte. Vorsichtig betrat er durch das offene Portal die Kirche und schlich zum Chorumgang. Links von ihm, zwischen zwei Strebepfeilern, lag die Sakramentskapelle. Auf Zehenspitzen schlich er durch die Kirche und versteckte sich hinter einem Pfeiler am Hauptaltar. Von dort hörte er Geräusche aus der Kapelle, konnte jedoch noch nichts sehen. Er schlich zum nächsten Pfeiler, und nun konnte er zwischen zwei Pfeilern hindurch die Kapelle sehen, wie stets von zahllosen Kerzen erhellt.
Im Inneren der Kapelle war ein Mann gerade dabei, an dem schmiedeeisernen Gitter hochzuklettern. Arnau sah zur Madonna hin. Alles schien in Ordnung zu sein. Und nun? Er ließ den Blick durch die Kapelle schweifen. Die Kasse der Bastaixos war aufgebrochen. Während der Dieb an dem Gitter hochkletterte, glaubte Arnau das Klimpern der Münzen zu hören, die die Bastaixos zur Versorgung ihrer Waisen und Witwen in diese Kasse einzahlten.
»Du Dieb!«, rief er und warf sich gegen das Gitter.
Mit einem Satz hatte Arnau das Gitter erklommen und stieß den Mann vor die Brust. Der überraschte Dieb polterte lärmend zu Boden. Arnau blieb keine Zeit zum Nachdenken. Der Mann rappelte sich rasch auf und verpasste dem Jungen einen gewaltigen Fausthieb ins Gesicht. Arnau fiel rückwärts auf den Kirchenboden.
17
»Er muss gestürzt sein, als er nach dem Raub der Kasse der Bastaixos zu flüchten versuchte«, urteilte einer der königlichen Soldaten, der neben dem immer noch bewusstlosen Arnau stand.
Pater Albert schüttelte den Kopf. Wie konnte Arnau eine solch schreckliche Tat begangen haben? Die Kasse der Bastaixos, in der Sakramentskapelle, vor den Augen seiner Jungfrau! Die Soldaten hatten ihn einige Stunden vor Morgengrauen hergerufen.
»Das kann nicht sein«, murmelte er vor sich hin.
»Doch, Pater«, beteuerte der Beamte. »Der Junge trug diese Börse bei sich.« Er zeigte die Börse mit Graus Geld für die Gefangenen vor. »Was macht ein Junge mit so viel Geld?«
»Und sein Gesicht«, wandte ein anderer Soldat ein. »Wozu sollte sich jemand das Gesicht mit Lehm beschmieren, außer um auf Raubzug zu gehen?«
Pater Albert schüttelte erneut den Kopf, den Blick auf die Börse gerichtet, die der Soldat hochhielt. Was hatte Arnau zu dieser Nachtstunde dort verloren? Woher hatte er diese Börse?
»Was habt ihr jetzt vor?«, fragte er die Soldaten, als er sah, dass sie Arnau zum Aufstehen nötigten.
»Wir bringen ihn ins Gefängnis.«
»Auf gar keinen Fall«, hörte er sich selbst sagen.
Vielleicht gab es für das alles eine Erklärung. Es konnte nicht sein, dass Arnau versucht hatte, die Kasse der Bastaixos zu stehlen. Nicht Arnau.
»Er ist ein Dieb, Pater.«
»Das wird ein Gericht zu entscheiden haben.«
»So ist es«, bestätigte der Soldat, während seine Männer Arnau unter den Achseln packten, »aber er wird den Prozess im Gefängnis abwarten.«
»Wenn er in ein Gefängnis kommt, dann in das des Bischofs«, sagte der Priester. »Das Verbrechen wurde an einem geheiligten Ort begangen. Folglich fällt es unter die Zuständigkeit der Kirche, nicht des Stadtrichters.«
Der Soldat sah seine Männer an und dann Arnau. Dann befahl er ihnen mit einer Geste, den Jungen wieder loszulassen. Dieser Aufgabe kamen sie nach, indem sie ihn einfach fallen ließen. Ein höhnisches Lächeln erschien auf seinen Lippen, als er sah, wie das Gesicht des Jungen hart auf den Fußboden aufschlug.
Pater Albert sah sie wütend an.
»Bringt ihn zur Besinnung«, forderte Pater Albert, während er die Schlüssel zur Kapelle hervorzog, das Gitter öffnete und hineinging. »Ich will hören, was der Junge zu sagen hat.«
Er ging zur Kasse der Bastaixos, deren drei Schlösser aufgebrochen worden waren, und vergewisserte sich, dass sie leer war. Sonst fehlte nichts in der Kapelle, es war auch nichts zerstört worden.
»Was ist geschehen?«, hielt er stumme Zwiesprache mit der Jungfrau. »Wie konntest du zulassen, dass Arnau dieses Verbrechen begeht?« Er hörte, wie die Soldaten dem Jungen Wasser ins Gesicht schütteten. Als er aus der Kapelle kam, betraten gerade mehrere Bastaixos, die man über den Raub ihrer Kasse in Kenntnis gesetzt hatte, die Kirche.
Als Arnau das eiskalte Wasser spürte, kam er zu sich und sah, dass er von Soldaten umringt war. Er hörte erneut das Geräusch der Lanze, die in der Calle Bòria an seinem Ohr vorbeigezischt war. Er war vor ihnen davongerannt. Wie hatten sie ihn erwischen können? War er gestolpert? Die Gesichter der Soldaten beugten sich über ihn. Sein Vater! Er brannte! Er musste fliehen! Arnau rappelte sich auf und versuchte einen der Soldaten zur Seite zu stoßen, doch die Männer hielten ihn mühelos fest.
Niedergeschlagen sah Pater Albert zu, wie der Junge darum kämpfte, sich von den Soldaten loszureißen.
»Wollt Ihr noch mehr hören, Pater?«, warf ihm der Soldat spöttisch vor. »Oder ist Euch das Geständnis genug?« Dabei blickte er auf den verzweifelt sich wehrenden Arnau.
Pater Albert barg das Gesicht in den Händen und seufzte. Dann trat er zu den Soldaten, die Arnau festhielten.
»Warum hast du das getan?«, fragte er den Jungen, als er vor ihm stand. »Du weißt, dass diese Kasse deinen Freunden, den Bastaixos, gehört. Dass sie damit für die Witwen und Waisen ihrer Zunftbrüder sorgen, ihre Toten begraben, mildtätige Werke tun, deine Mutter, die Jungfrau, schmücken und dafür sorgen, dass stets Kerzen vor ihr brennen. Warum hast du es getan, Arnau?«
Die Gegenwart des Priesters beruhigte Arnau. Aber was machte er hier? Die Kasse der Bastaixos! Der Dieb! Er hatte ihm einen Schlag versetzt, doch was war dann geschehen? Mit weit aufgerissenen Augen blickte er um sich. Hinter den Soldaten erkannte er unzählige bekannte Gesichter, die ihn beobachteten und auf seine Antwort warteten. Er erkannte Ramon und den kleinen Ramon, Pere, Jaume, Joan, der sich auf Zehenspitzen stellte, um etwas zu sehen, Sebastià und seinen Sohn Bastianet und viele andere, denen er zu trinken gegeben und mit denen er unvergessliche Momente auf dem Marsch des Bürgerheers nach Creixell erlebt hatte. Sie beschuldigten ihn! Das war es!
»Ich war's nicht …«, stotterte er.
Der Beamte hielt ihm Graus Geldbörse vors Gesicht. Arnau fasste an die Stelle, wo sie hätte sein sollen. Er hatte sie nicht unter der Matratze zurücklassen wollen, falls die Baronin sie anzeigte und man Joan beschuldigte, und nun … Dieser verfluchte Grau! Diese verfluchte Börse!
»Suchst du das?«, warf ihm der Beamte entgegen.
Ein Raunen ging durch die Bastaixos.
»Ich war's nicht, Pater«, verteidigte sich Arnau.
Der Soldat lachte schallend und seine Männer stimmten mit ein.
»Ramon, ich war es nicht. Ich schwöre es euch«, wiederholte Arnau und sah dem Bastaix in die Augen.
»Was hast du dann in der Nacht hier zu suchen? Woher hast du diese Börse? Weshalb hast du versucht zu fliehen? Weshalb hast du dein Gesicht mit Lehm beschmiert?«
Arnau betastete sein Gesicht. Der Lehm war getrocknet.
Die Börse! Der Soldat ließ sie vor seinen Augen hin und her baumeln. Inzwischen trafen immer mehr Bastaixos ein. Leise erzählte einer dem anderen, was vorgefallen war. Arnau starrte auf die baumelnde Börse. Diese verfluchte Börse! Dann wandte er sich an den Pater.