Angesichts der Worte des Zunftmeisters fiel die Anspannung von Arnau ab. An diesem Tag würde er keine Lasten mehr schleppen müssen. Doch nun machten sich Schmerzen und Müdigkeit nach der durchwachten Nacht bemerkbar. Arnau war am Ende seiner Kräfte. Er murmelte etwas zum Abschied und schleppte sich nach Hause. Joan wartete in der Tür auf ihn. Wie lange mochte er schon dort stehen?
»Weißt du, dass ich ein Bastaix bin?«, fragte Arnau ihn, als er vor ihm stand.
Joan nickte. Ja, das wusste er. Er hatte ihn während seiner letzten beiden Gänge beobachtet, hatte bei jedem unsicheren Schritt, den er machte, die Zähne zusammengebissen und die Hände geballt, hatte gebetet, dass er nicht stürzte, und als er sein schmerzverzerrtes Gesicht sah, waren ihm die Tränen gekommen. Nun wischte sich Joan die Tränen ab und breitete die Arme aus, um seinen Bruder zu begrüßen. Arnau warf sich ihm entgegen.
»Du musst meinen Rücken mit dieser Salbe einreiben«, sagte er noch, während Joan ihn ins Haus führte.
Mehr brachte er nicht mehr heraus. Er warf sich der Länge nach mit ausgebreiteten Armen hin und war nach wenigen Sekunden in einen heilsamen Schlaf gefallen. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, säuberte Joan die Wunde und den Rücken mit warmem Wasser, das Mariona ihm brachte. Danach trug er die streng riechende Salbe auf. Sie schien sofort Wirkung zu zeigen, denn Arnau wälzte sich unruhig hin und her, ohne jedoch aufzuwachen.
In dieser Nacht war es Joan, der keinen Schlaf fand. Er saß neben seinem Bruder auf dem Boden und lauschte auf Arnaus Atem. War dieser gleichmäßig, fielen ihm langsam die Augen zu, doch sobald Arnau sich bewegte, schreckte er wieder hoch. »Und was wird jetzt aus uns?«, dachte er hin und wieder. Er hatte mit Pere und seiner Frau gesprochen. Das Geld, das Arnau als Bastaix verdienen konnte, würde nicht für sie beide reichen. Was sollte aus ihm werden?
»Ab in die Schule!«, befahl ihm Arnau am nächsten Morgen, als er Joan dabei antraf, wie er Mariona zur Hand ging.
Er hatte am Vortag darüber nachgedacht: Alles sollte so weitergehen, wie es zu Lebzeiten seines Vaters gewesen war.
Über den Herd gebeugt, warf die alte Frau ihrem Mann einen Blick zu. Joan wollte Arnau antworten, doch Pere kam ihm zuvor: »Mach, was dein älterer Bruder dir sagt«, forderte er ihn auf.
Marionas angespannter Blick wich einem Lächeln. Der alte Mann sah sie mit unverändert ernster Miene an. Wovon sollten sie leben? Doch Mariona lächelte weiter, bis Pere den Kopf schüttelte, so als wollte er die Unwägbarkeiten aus seinen Gedanken vertreiben, über die sie in der Nacht so lange gesprochen hatten.
Joan verließ eilig das Haus. Als der Kleine verschwunden war, versuchte Arnau erneut, sich zu strecken. Er konnte keinen einzigen Muskel rühren. Er war völlig verspannt und über und über mit schlimmen Schürfwunden übersät. Doch ganz langsam begann sein junger Körper, ihm wieder zu gehorchen. Nachdem er sein karges Frühstück verzehrt hatte, ging er in die Sonne hinaus. Lächelnd sah er über den Strand aufs Meer hinaus und zu den sechs Galeeren, die noch immer im Hafen vor Anker lagen.
Ramon und Josep ließen sich seinen Rücken zeigen.
»Eine Tour«, sagte der Zunftmeister zu Ramon, bevor er zu den anderen ging. »Danach zur Kapelle.«
Arnau sah Ramon an, während er das Hemd wieder überstreifte.
»Du hast es gehört«, sagte dieser.
»Aber …«
»Hör auf ihn, Arnau. Josep weiß, was er tut.«
Ja, das wusste er. Nachdem er den ersten Krug transportiert hatte, begann Arnau wieder zu bluten.
»Wenn es schon beim ersten Mal geblutet hat, kommt es doch auf ein paar Touren mehr nicht an«, beteuerte Arnau, als Ramon nach ihm seine Ware am Strand ablud.
»Die Schwielen, Arnau. Es geht nicht darum, dass du dir den Rücken zuschanden schleppst, sondern dass sich Schwielen bilden. Jetzt geh und wasch dich, trage die Salbe auf, und dann gehst du in die Kapelle.« Arnau versuchte zu widersprechen. »Es ist unsere Kapelle, Arnau, deine Kapelle. Einer muss sich um sie kümmern.«
»Diese Kapelle bedeutet uns sehr viel«, setzte der Bastaix hinzu, der mit Ramon zusammenarbeitete. »Wir sind nur einfache Stauer, doch das Ribera-Viertel hat uns zugestanden, was kein Adliger und keine der reichen Zünfte besitzt: die Kapelle mit dem Allerheiligsten und die Schlüssel zur Kirche der Schutzpatronin des Meeres. Verstehst du?« Arnau nickte nachdenklich. »Nur wir Bastaixos dürfen diese Kapelle instand halten. Es gibt keine größere Ehre für einen von uns. Du wirst noch genug Zeit zum Be- und Entladen haben, mach dir da mal keine Sorgen.«
Mariona versorgte seine Wunden und Arnau ging zur Kirche Santa María. Dort suchte er nach Pater Albert, damit dieser ihm die Schlüssel zur Kapelle aushändigte, doch der Priester forderte ihn auf, ihn zu dem Friedhof am Portal de les Moreres zu begleiten.
»Heute Morgen habe ich deinen Vater beerdigt«, sagte er und deutete auf den Friedhof. Arnau sah ihn fragend an. »Ich wollte dir nicht Bescheid geben, falls sich Soldaten dort zeigen sollten. Der Stadtrichter wollte nicht, dass die Leute den verbrannten Leichnam deines Vaters sehen, weder auf der Plaza del Blat noch vor den Toren der Stadt. Es war nicht schwer für mich, die Erlaubnis zu seiner Bestattung zu erhalten.«
Die beiden standen eine Weile schweigend vor dem Friedhof.
»Soll ich dich allein lassen?«, fragte der Pfarrer schließlich.
»Ich muss mich um die Kapelle der Bastaixos kümmern«, antwortete Arnau und wischte sich die Tränen ab.
Einige Tage lang machte Arnau immer nur eine Tour und ging dann zur Kapelle. Die Galeeren waren mittlerweile in See gestochen, und bei den Lasten handelte es sich um die üblichen Handelswaren: Stoffe, Korallen, Gewürze, Kupfer, Wachs … Eines Tages blutete sein Rücken nicht mehr. Nachdem Josep ihn erneut untersucht hatte, durfte Arnau weitere große Stoffballen tragen. Er lächelte allen Bastaixos zu, die ihm begegneten.
Inzwischen erhielt er seinen ersten Lohn als Bastaix. Es war kaum mehr, als er für seine Arbeit bei Grau bekommen hatte! Er händigte Pere das ganze Geld aus und zusätzlich noch einige Münzen, die sich noch in Bernats Geldbörse befanden. »Es reicht nicht«, dachte der Junge, als Pere das Geld zählte. Bernat hatte ihm wesentlich mehr gezahlt. Er öffnete erneut die Börse. Es würde nicht mehr lange reichen, überlegte er, nachdem er den Inhalt der abgegriffenen Börse überschlagen hatte. Die Hand in der Börse, sah er den alten Mann an. Pere zog die Stirn kraus.
»Wenn ich mehr tragen kann«, beteuerte Arnau, »werde ich auch mehr Geld verdienen.«
»Das wird noch eine ganze Weile dauern, Arnau, das weißt du, und bis dahin wird die Börse deines Vaters leer sein. Du weißt, dass dieses Haus mir nicht gehört … Nein, es gehört mir nicht«, erklärte er angesichts der überraschten Miene des Jungen. »Die meisten Häuser in der Stadt gehören der Kirche – dem Bischof oder einem Orden. Wir besitzen es nur in Erbpacht, für die wir einen jährlichen Pachtzins entrichten müssen. Du weißt ja, dass ich nicht viel arbeiten kann. Um die Summe aufzubringen, habe ich also nur die Mieteinnahmen für das Zimmer. Wenn du nicht genug zahlst … Verstehst du?«
»Was nützt es dann, frei zu sein, wenn die Menschen in der Stadt genauso an ihre Häuser gefesselt sind wie die Bauern an ihr Land?«, fragte Arnau kopfschüttelnd.
»Wir sind nicht an die Häuser gefesselt«, entgegnete Pere.
»Aber ich habe gehört, dass all diese Häuser vom Vater auf den Sohn übergehen. Sie werden sogar verkauft! Wie ist das möglich, wenn man das Haus nicht besitzt und man auch nicht daran gebunden ist?«
»Ganz einfach, Arnau. Der Kirche gehören viele Ländereien und Besitzungen, doch ihre Gesetze verbieten es ihr, kirchliches Eigentum zu veräußern.« Arnau wollte etwas sagen, doch Pere brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Das Problem ist, dass der König Bischöfe, Äbte und sonstige kirchliche Würdenträger aus den Reihen seiner Freunde ernennt. Der Papst stellt sich nie dagegen. All diese Freunde des Königs erhoffen sich gute Einnahmen aus diesen Gütern, doch da sie sie nicht verkaufen können, haben sie sich die Erbpacht ausgedacht und umgehen so das Veräußerungsverbot.«