»Warum?«
»Wenn Vater davon erfährt …«
»Was sollte er erfahren?«
»Dass du Arnau liebst.«
»Ich liebe Arnau nicht! Es ist nur … er gefällt mir, Alesta. Wenn er mich ansieht …«
»Du liebst ihn«, beharrte die Jüngere.
»Nein. Wie soll ich es dir erklären? Wenn ich sehe, wie er mich ansieht, wie er errötet, dann ist das wie ein Kribbeln im ganzen Körper.«
»Du liebst ihn.«
»Nein. Schlaf jetzt! Was weißt du denn schon? Schlaf!«
»Du liebst ihn, du liebst ihn, du liebst ihn.«
Aledis beschloss, nicht zu antworten. Hatte ihre Schwester womöglich recht? Sie genoss es doch lediglich, sich beachtet und begehrt zu wissen. Es gefiel ihr, dass Arnau seine Augen nicht von ihrem Körper wenden konnte. Es bereitete ihr Genugtuung, seinen offensichtlichen Kummer zu bemerken, wenn sie aufhörte, ihn zu locken. War das Liebe? Aledis versuchte eine Antwort zu finden, doch schon nach kurzer Zeit kostete sie in Gedanken erneut dieses wohlige Gefühl aus, bevor sie schließlich einschlief.
Eines Morgens verließ Ramon den Strand, als er Joan vor Peres Haus treten sah, und ging zu ihm hinüber.
»Was ist mit deinem Bruder los?«, fragte er ihn, noch bevor er gegrüßt hatte.
Joan überlegte einige Sekunden.
»Ich glaube, er hat sich in Aledis verliebt, die Tochter von Gastó, dem Gerber.«
Ramon musste lachen.
»Dann ist es die Liebe, die ihn verrückt macht«, stellte er fest. »Wenn er so weitermacht, wird er zusammenbrechen. Man kann nicht in diesem Tempo durcharbeiten. Er ist nicht auf solche Anstrengung vorbereitet. Er wäre nicht der erste Bastaix, der zusammenbricht … Und dein Bruder ist zu jung, um als Krüppel zu enden. Unternimm etwas, Joan.«
Noch am selben Abend versuchte Joan, mit seinem Bruder zu sprechen.
»Was ist mit dir los, Arnau?«, fragte er ihn von seiner Matratze aus.
Dieser schwieg.
»Du musst es mir erzählen. Ich bin dein Bruder und ich will dir helfen. Du hast mir auch immer geholfen. Lass mich deine Probleme mit dir teilen!«
Joan ließ seinem Bruder Zeit, über seine Worte nachzudenken.
»Es ist … wegen Aledis«, gab Arnau zu. Joan wollte ihn nicht unterbrechen. »Ich weiß nicht, was mit diesem Mädchen los ist, Joan. Seit dem Spaziergang am Strand ist etwas anders zwischen uns. Sie sieht mich an, als wollte sie … Ich weiß nicht. Außerdem …«
»Außerdem was?«, fragte Joan, als sein Bruder verstummte.
Ich werde ihm nur von den Blicken erzählen, beschloss Arnau, während er an Aledis' Brüste dachte.
»Nichts.«
»Und wo liegt dann das Problem?«
»Ich habe schlechte Gedanken. Ich sehe sie nackt. Na ja, ich würde sie gerne nackt sehen. Ich würde gerne …«
Joan hatte seine Lehrer gebeten, diese Materie im Unterricht näher zu behandeln. Da sie nicht wussten, dass sein Interesse in der Sorge um seinen Bruder begründet lag, hatten sie befürchtet, der Junge könne der Versuchung erliegen und von dem Weg abkommen, den er so entschlossen begonnen hatte, und sich in Erklärungen über das Wesen und die wollüstige Natur der Frau ergangen.
»Es ist nicht deine Schuld«, behauptete Joan.
»Nein?«
»Nein. Die Verderbtheit«, flüsterte er über den Herd hinweg, neben dem sie schliefen, »ist eine der vier angeborenen Untugenden des Menschen, mit denen wir wegen der Erbsünde zur Welt kommen. Die Verderbtheit der Frau jedoch übertrifft alles andere.«
Joan gab die Erklärungen seiner Lehrer aus dem Gedächtnis wieder.
»Welches sind die anderen drei Untugenden?«
»Geiz, Verblendung und Gleichgültigkeit.«
»Und was hat die Verderbtheit mit Aledis zu tun?«
»Die Frauen sind von Natur aus schlecht und genießen es, den Mann auf die Wege des Bösen zu führen«, dozierte Joan.
»Warum?«
»Weil die Frauen unstet sind wie ein Windhauch. Sie treiben von hier nach dort wie ein Blatt im Wind.«
Joan dachte an den Priester, der diesen Vergleich angestellt hatte. Dabei hatte er mit den Armen um seinen Kopf herumgefuchtelt, die Hände gespreizt, während seine Finger auf und ab flatterten.
»Zum Zweiten«, dozierte er weiter, »wurde die Frau von Natur aus mit wenig Verstand erschaffen, der ihrer natürlichen Verderbtheit Einhalt geböte.«
Joan hatte das alles gelesen und noch viel mehr, doch er war nicht in der Lage, das Gelesene in Worte zu fassen. Die Gelehrten behaupteten außerdem, die Frau sei von Natur aus kalt und phlegmatisch, und bekanntlich entbrenne etwas Kaltes, wenn es Feuer fange, besonders heftig. Den Kennern zufolge war die Frau die Antithese des Mannes. Sogar ihr Körper sei dem des Mannes entgegengesetzt, unten breit und oben schmal, während es bei einem wohlgestalten Mann genau andersherum sein solle: schlank von der Brust abwärts, breite Schultern und Brust, kurzer, kräftiger Hals und ein großer Kopf. Komme eine Frau zur Welt, so sei der erste Buchstabe, den sie ausspreche, das ›E‹, ein zänkischer Laut. Hingegen sei der erste Buchstabe, den ein Mann ausspreche, das ›A‹, der erste Buchstabe des Alphabets und dem ›E‹ genau entgegengesetzt.
»Das kann nicht sein. Aledis ist nicht so«, widersprach Arnau schließlich.
»Mach dir nichts vor. Mit Ausnahme der Jungfrau Maria, die Jesus ohne Sünde empfing, sind alle Frauen gleich. Sogar die Vorschriften deiner Zunft tragen dem Rechnung! Verbieten sie nicht ehebrecherische Beziehungen? Schreiben sie nicht den Ausschluss jedes Mitglieds vor, das eine Geliebte hat oder mit einer ehrlosen Frau zusammenlebt?«
Diesem Argument hatte Arnau nichts entgegenzusetzen. Von den Argumenten der Gelehrten und Philosophen hatte er keine Ahnung. Er konnte sie trotz Joans Bemühungen ignorieren, doch bei den Zunftvorschriften war das anders. Diese Regeln waren ihm sehr wohl bekannt. Die Zunftmeister hatten ihn damit vertraut gemacht und ihn darauf hingewiesen, dass man ihn ausschließen werde, wenn er sich nicht daran halte. Und die Zunft konnte nicht irren!
Arnau war entsetzlich verwirrt.
»Aber was kann man dann tun? Wenn alle Frauen schlecht sind …«
»Zunächst einmal muss man sie heiraten«, fiel ihm Joan ins Wort, »und wenn der Bund der Ehe geschlossen ist, so handeln, wie es uns die Kirche lehrt.«
Heiraten … Diese Möglichkeit hatte er noch nie bedacht, aber wenn es die einzige Lösung war …
»Und was muss man tun, wenn man dann verheiratet ist?«, fragte er. Seine Stimme bebte angesichts der Aussicht, ein Leben lang mit Aledis zusammen zu sein.
Joan nahm den Faden dessen wieder auf, was ihm seine Lehrer an der Domschule erklärt hatten: »Ein guter Ehemann muss versuchen, die natürliche Verderbtheit seiner Frau zu kontrollieren, indem er einige Grundregeln befolgt. Die erste lautet, dass die Frau dem Manne Untertan sein solle: Sub potestate viri eris , heißt es in der Genesis. Die zweite, nach dem Buch Kohelet: Mulier si primatum haber …« Joan stockte. » Mulier si primatum habuerit, contraria est viro suo. Das heißt, wenn die Frau die Herrschaft im Haus übernimmt, wird sie ihrem Mann nicht gehorchen. Eine weitere Regel geht auf das Buch der Sprichwörter zurück: Qui delicate nutrit servum suum, inveniet contumacem . Wer jene mit Milde behandelt, die ihm dienen sollen – und dazu gehört auch die Frau –, wird dort Aufbegehren finden, wo er Bescheidenheit, Unterwürfigkeit und Gehorsam antreffen sollte. Und zeigt sich trotz alledem die Verderbtheit einer Frau, soll ihr Ehemann sie mit Scham und Angst strafen. Sie züchtigen, wenn sie jung ist, und nicht warten, bis sie alt ist.«
Arnau hörte seinem Bruder schweigend zu.
»Joan«, sagt er, als dieser geendet hatte, »glaubst du, ich könnte Aledis heiraten?«
»Natürlich! Aber du solltest noch ein wenig warten, bis du es in der Zunft zu etwas gebracht hast und sie ernähren kannst. In jedem Fall wäre es gut, wenn du mit ihrem Vater sprichst, bevor er sie einem anderen verspricht. Sonst kannst du nämlich nichts mehr machen.«