Das Bild von Gastó Segura mit seinen schwarzen Zahnstummeln erschien vor Arnaus innerem Auge wie ein unüberwindliches Hindernis. Joan erriet die Ängste seines Bruders.
»Du musst es tun«, sagte er.
»Würdest du mir helfen?«
»Natürlich!«
Für einige Momente herrschte Schweigen zwischen den beiden Matratzen vor Peres Herd.
»Joan«, sagte dann Arnau in die Stille hinein.
»Ja?«
»Danke.«
»Keine Ursache.«
Die beiden Brüder versuchten zu schlafen, doch es gelang ihnen nicht. Arnau, weil er völlig hingerissen war von der Idee, seine geliebte Aledis zu heiraten, und Joan, weil er den Erinnerungen an seine Mutter nachhing. Hatte Ponç, der Kupferschmied, womöglich recht gehabt? Die Frau sei von Natur aus schlecht. Die Frau soll dem Manne Untertan sein. Der Mann soll die Frau züchtigen. Hatte der Kupferschmied recht gehabt? Wie konnte er, Joan, das Gedächtnis seiner Mutter achten und gleichzeitig solche Ratschläge geben? Joan erinnerte sich, wie die Hand seiner Mutter in dem kleinen Fensterchen ihres Gefängnisses erschienen war und ihm über den Kopf gestreichelt hatte. Er erinnerte sich an den Hass, den er Ponç gegenüber empfunden hatte und immer noch empfand …
In den folgenden Tagen brachte keiner der beiden den Mut auf, den misslaunigen Gastó anzusprechen. Der Aufenthalt als Mieter in Peres Haus erinnerte den Mann immer wieder aufs Neue an sein Unglück, das dazu geführt hatte, dass er sein eigenes Haus verlor. Der Gerber wirkte auf sie noch schroffer als sonst, und seine brummige, widerborstige, grobe Art hielt sie davon ab, ihm ihren Vorschlag zu unterbreiten.
Unterdessen ließ sich Arnau weiterhin von Aledis in ihren Bann ziehen. Er beobachtete sie, folgte ihr mit Blicken, und es gab keinen Moment des Tages, an dem seine Gedanken nicht bei ihr waren. Nur wenn Gastó auftauchte, wurden seine Phantasien zurechtgestutzt.
Denn ganz gleich, welche Verbote die Priester und die Zünfte aussprachen – der Junge konnte einfach nicht die Augen von Aledis wenden, die jede Gelegenheit nutzte, um ihn aufzureizen. Arnau war wie gebannt von ihrem Anblick. Ihr ganzer Körper zog ihn unwiderstehlich an. »Du wirst meine Frau sein. Eines Tages wirst du meine Frau sein«, dachte er erregt. Dann versuchte er, sie sich nackt vorzustellen, und seine Gedanken wanderten zu verbotenen, unbekannten Orten, denn mit Ausnahme des geschundenen Körpers von Habiba hatte er noch nie eine nackte Frau gesehen.
Arnau setzte alles daran, einen geeigneten Moment zu finden, um mit Gastó zu reden.
»Was steht ihr hier herum und haltet Maulaffen feil!«, fuhr der Gerber sie an, als die beiden Jungen einmal in der naiven Absicht vor ihn traten, ihn um die Hand seiner Tochter zu bitten.
Das Lächeln, mit dem Joan Gastó gewinnen wollte, verschwand von seinem Gesicht, als der Gerber zwischen sie trat und sie einfach beiseite stieß.
»Geh du, ich schaff das einfach nicht«, sagte Arnau ein andermal zu seinem Bruder.
Gastó saß alleine am Tisch im Erdgeschoss. Joan nahm ihm gegenüber Platz und räusperte sich. Als er zum Sprechen ansetzen wollte, sah der Gerber von dem Lederstück auf, das er gerade untersuchte.
»Gastó …«, begann Joan.
»Ich ziehe ihm bei lebendigem Leibe die Haut ab! Ich reiße ihm die Eier ab!«, polterte der Gerber los, während er durch die Lücken zwischen den schwarzen Zahnstummeln ausspuckte. »Simò!«
Joan wandte sich zu Arnau um, der sich in einer Ecke des Raumes versteckt hatte, und zuckte mit den Achseln. Unterdessen war Simò auf den Schrei seines Vaters herbeigeeilt.
»Wie kommt dieser Knick hier hin?«, brüllte er ihn an und hielt ihm das Stück Leder vor die Nase.
Joan stand auf und zog sich von dem Familienstreit zurück.
Aber sie gaben nicht auf.
»Gastó …«, versuchte es Joan erneut, als sich der Gerber nach dem Abendessen, offensichtlich guter Laune, zu einem Strandspaziergang aufmachte. Die beiden Jungen folgten ihm.
»Was willst du?«, fragte er, ohne stehen zu bleiben.
»Ich … ich wollte mit dir über Aledis sprechen.«
Als Gastó den Namen seiner Tochter hörte, blieb er stehen und trat so nahe zu Joan, dass der Junge seinen übelriechenden Atem spürte.
»Was hat sie angestellt?«
Gastó respektierte Joan. Er hielt ihn für einen ernsthaften jungen Mann. Die Erwähnung von Aledis und sein angeborenes Misstrauen ließen ihn vermuten, dass Joan ihr etwas vorzuwerfen hatte, und der Gerber konnte nicht zulassen, dass auch nur der kleinste Makel auf sein Schmuckstück fiel.
»Nichts«, antwortete Joan.
»Was heißt nichts?«, entgegnete Gastó hastig, ohne auch nur einen Millimeter von Joan abzurücken. »Warum willst du dann mit mir über Aledis sprechen? Sag die Wahrheit, was hat sie angestellt?«
»Nichts. Sie hat nichts angestellt. Ehrlich.«
»Nichts? Und du?«, sagte er, diesmal zur Beruhigung seines Bruders an Arnau gerichtet. »Was hast du dazu zu sagen? Was weißt du über Aledis?«
»Ich? Nichts …«
Arnaus Zögern gab Gastós zwanghaften Befürchtungen neue Nahrung.
»Erzähl es mir!«
»Es ist nichts … gar nichts …«
Gastó wartete nicht länger und stapfte zu Peres Haus zurück.
Die beiden Jungen versuchten es noch zwei weitere Male, aber sie kamen gar nicht dazu, sich zu erklären. Nach einigen Wochen schilderten sie entmutigt Pater Albert ihr Problem, der lächelnd versprach, mit Gastó zu reden.
»Es tut mir leid, Arnau«, erklärte Pater Albert eine Woche später. Er hatte Arnau und Joan an den Strand bestellt. »Gastó Segura willigt nicht in eine Heirat mit seiner Tochter ein.«
»Warum?«, fragte Joan. »Arnau ist ein anständiger Kerl.«
»Ihr wollt, dass ich meine Tochter einem Hafenarbeiter zur Frau gebe?«, hatte der Gerber dem Pfarrer entgegnet. »Einem Sklaven, der nicht einmal genug verdient, um sich ein Zimmer zu mieten?«
Der Pater hatte versucht, ihn zu überzeugen: »Im Ribera-Viertel arbeiten keine Sklaven mehr. Das war früher einmal. Du weißt genau, dass es verboten ist, Sklaven …«
»Es ist Sklavenarbeit.«
»Das war es früher«, beharrte der Priester. »Außerdem«, setzte er hinzu, »ist es mir gelungen, eine gute Mitgift für deine Tochter zu beschaffen.« Gastó Segura, der das Gespräch bereits für beendet erklärt hatte, drehte sich abrupt zu dem Priester um. »Davon könnten sie ein Haus kaufen …«
Gastó unterbrach ihn erneut:
»Meine Tochter braucht keine Almosen von den Reichen! Hebt Euch Eure Predigten für andere auf.«
Nachdem er Pater Alberts Worte gehört hatte, blickte Arnau aufs Meer hinaus. Ein Streifen schimmernden Mondlichts zog sich vom Horizont bis zum Ufer und verlor sich in der Gischt der Wellen, die sich am Strand brachen.
Pater Alberts Schweigen wurde vom Rauschen der Wellen übertönt. Und wenn Arnau ihn nach den Gründen fragte? Was sollte er ihm sagen?
»Warum?«, brachte Arnau heraus, während er weiter zum Horizont sah.
»Gastó Segura ist ein sonderbarer Mensch.« Er durfte den Jungen nicht noch trauriger machen! »Er will einen Adligen für seine Tochter! Wie kann ein Gerbergeselle so einen Wunsch hegen?«
Einen Adligen. Ob ihm der Junge das geglaubt hatte? Niemand konnte sich gering geschätzt fühlen, wenn der Adel im Spiel war. Sogar das stete, geduldige Rauschen der Wellen schien auf Arnaus Antwort zu warten.
Ein Schluchzen hallte über den Strand.
Der Priester legte den Arm um Arnaus Schulter und spürte, wie der Junge von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Dann nahm er auch Joan in den Arm. So standen die drei am Meer.
»Du wirst eine gute Frau finden«, sagte der Priester schließlich.
»Aber keine wie sie«, dachte Arnau.
DRITTER TEIL
DIENER DER LEIDENSCHAFT