»Es war nicht seine Schuld …«, stammelte Arnau und wies auf Jaume, der immer noch nicht begriff, was geschehen war.
Ohne ein Wort ging der Soldat wie ein wilder Stier auf Arnau los. Er stieß ihm mit dem Kopf vor die Brust und schleuderte ihn mehrere Meter weit, so weit, dass die Gaffer zurückweichen mussten. Arnau durchfuhr ein Schmerz, als hätte man ihm den Brustkorb zerrissen. Der Gestank, an den einzuatmen er sich gewöhnt hatte, schien plötzlich verschwunden zu sein. Er schnappte nach Luft. Er versuchte sich aufzurappeln, doch ein Fußtritt ins Gesicht streckte ihn erneut zu Boden. Ein heftiger Schmerz wütete in seinem Kopf, während er versuchte, einen Atemzug zu machen. Die Prügel, die dann folgten, waren so furchtbar, dass Arnau die Augen schloss und sich auf der Erde zusammenkauerte.
Als der Soldat von ihm abließ, glaubte Arnau, der Wahnsinnige habe ihn totgeschlagen. Doch trotz der Schmerzen, die er empfand, drangen Laute an sein Ohr.
Immer noch auf dem Boden kauernd, lauschte er aufmerksam.
Da hörte er es.
Er hörte es einmal.
Und dann noch einmal, und noch einmal. Er öffnete die Augen und sah die Leute an, die grölend um ihn herumstanden und auf ihn zeigten. Die Worte seines Vaters hallten in seinem dröhnenden Kopf wider: »Ich habe alles zurückgelassen, was ich besaß, damit du frei sein kannst.« In seinem verwirrten Geist vermischten sich Bilder und Erinnerungen. Er sah seinen Vater an einem Strick auf der Plaza del Blat baumeln … Arnau stand auf. Blut rann ihm übers Gesicht. Er erinnerte sich an den ersten Stein, den er der Schutzpatronin des Meeres gebracht hatte … Der Soldat stand mit dem Rücken zu ihm. Die Anstrengung, die es ihn damals gekostet hatte, diesen Stein auf seinem Rücken zu schleppen … Der Schmerz, das Leiden, der Stolz, als er ihn abgeladen hatte …
»Du Schwein!«
Der Bärtige fuhr herum.
»Du dummer Bauerntölpel!«, brüllte er, bevor er sich erneut in voller Länge auf Arnau stürzte.
Arnau warf sich auf den Soldaten und klammerte sich an ihm fest, um ihn am Schlagen zu hindern. Die beiden rollten über den Boden. Es gelang Arnau, schneller auf die Beine zu kommen als der Soldat. Statt ihm einen Schlag zu versetzen, packte er ihn beim Haar und an dem Lederwams, das er trug, hob ihn hoch wie eine Marionette und schleuderte ihn durch die Luft in den Kreis der Schaulustigen.
Der Bärtige krachte mit Getöse in die Zuschauermenge.
Doch kampferprobt, wie er war, ließ dieser sich nicht unterkriegen. Sekunden später stand er wieder vor Arnau, der unbeeindruckt auf ihn wartete. Diesmal stürzte sich der alte Haudegen nicht auf ihn, sondern versuchte ihm einen Fausthieb zu versetzen. Doch Arnau war erneut schneller. Er wehrte den Schlag ab, indem er den Mann am Arm packte. Dann drehte er sich um die eigene Achse und schleuderte ihn mehrere Meter weit durch die Luft. Arnaus Art der Verteidigung fügte dem Soldaten allerdings keinen größeren Schaden zu, und so folgte ein Angriff auf den nächsten.
Schließlich verpasste Arnau dem Mann einen Fausthieb mitten ins Gesicht, während dieser damit rechnete, dass sein Gegner ihn ein weiteres Mal durch die Luft wirbeln würde. Es war ein Schlag, in den der Bastaix seine ganze Wut legte.
Das Gejohle, das während des Kampfes geherrscht hatte, verstummte. Der Bärtige sank bewusstlos vor Arnau zusammen. Dieser hätte gerne seine Hand ausgeschüttelt, um den Schmerz in den Fingerknöcheln zu lindern, doch er hielt den Blicken mit geballter Faust stand, so als sei er jederzeit bereit, erneut zuzuschlagen. »Steh nicht auf«, dachte er mit Blick auf den Soldaten. »Bei Gott, steh nicht auf.«
Benommen versuchte der Soldat sich aufzurappeln. »Lass es!« Arnau stellte den rechten Fuß auf das Gesicht des Mannes und drückte ihn zu Boden. »Bleib liegen, du Mistkerl.« Der Soldat blieb liegen, und seine Kumpane kamen, um ihn wegzubringen.
»He, Junge!« Die Stimme klang herrisch. Arnau drehte sich um und stand vor dem Reiter, der den Streit ausgelöst hatte. Er trug noch seine Rüstung. »Komm mal her.«
Arnau gehorchte, während er unauffällig seine Hand rieb.
»Ich bin Eiximèn d'Esparça, Vasall Seiner Majestät König Pedros III. und ich will, dass du in meine Dienste trittst. Stell dich meinen Offizieren vor.«
28
Die drei Mädchen sahen sich schweigend an, als sich Aledis wie ein ausgehungertes Tier über den Eintopf hermachte. Atemlos und auf Knien griff sie mit den Händen in die Suppe, um das Fleisch und das Gemüse herauszufischen, ohne dabei die Mädchen aus den Augen zu lassen. Eine von ihnen, die Jüngste, deren üppige blonde Locken in Wellen über ihr himmelblaues Kleid flossen, verzog den Mund. Wer von ihnen hatte nicht schon dasselbe durchgemacht?, schien ihr Blick zu sagen. Ihre Gefährtinnen nickten und die drei ließen Aledis allein.
Das Mädchen mit den blonden Locken betrat ein Zelt. Geschützt vor der Julisonne, die unbarmherzig auf das Feldlager niederbrannte, saßen dort außer der Patronin, die auf einem Hocker thronte, noch vier weitere Mädchen, die etwas älter waren als jene draußen, und ließen Aledis nicht aus den Augen. Die Patronin hatte genickt, als die Fremde aufgetaucht war, und eingewilligt, dass man ihr etwas zu essen anbot. Seither hatte sie das Mädchen nicht aus den Augen gelassen. Es war zerlumpt und schmutzig, aber schön … und jung. Was wollte sie hier? Sie war keine Vagabundin, denn sie bettelte nicht. Eine Hure war sie auch nicht, denn sie war instinktiv zurückgeschreckt, als sie jenen begegnete, die es waren. Sie war schmutzig, ja. Sie trug ein fadenscheiniges Hemd, gewiss, und ihr Haar war ein Wust fettiger Strähnen. Ihre Zähne jedoch waren schneeweiß. Dieses Mädchen hatte weder Hunger noch Krankheiten kennengelernt, die die Zähne schwärzten. Was wollte sie hier? Sie musste auf der Flucht vor irgendetwas sein, doch wovor?
Die Patronin winkte eine der Frauen im Zelt zu sich.
»Ich will sie sauber und nett hergerichtet«, flüsterte sie ihr zu, als diese sich zu ihr beugte.
Die Frau sah Aledis an, dann lächelte sie und nickte.
Aledis konnte nicht widerstehen. »Du brauchst ein Bad«, sagte eine der Huren, die aus dem Zelt gekommen war, als sie sich satt gegessen hatte, zu ihr. Ein Bad! Seit wie vielen Tagen hatte sie sich nicht mehr gewaschen? Im Zelt wurde ein Zuber mit frischem Wasser für sie vorbereitet und Aledis setzte sich mit angezogenen Beinen hinein. Die drei Mädchen, die ihr während des Essens Gesellschaft geleistet hatten, kümmerten sich um sie und wuschen sie. Weshalb sollte sie sich nicht verwöhnen lassen? In diesem Zustand konnte sie unmöglich vor Arnau treten. Das Heer lagerte ganz in der Nähe, und dort war Arnau. Sie hatte es geschafft! Weshalb sollte sie sich nicht waschen lassen? Sie ließ sich auch ankleiden. Die Mädchen suchten das unauffälligste Kleid für sie heraus, aber dennoch … »Die öffentlichen Frauen sind verpflichtet, grellbunte Kleider zu tragen«, hatte ihre Mutter ihr als Kind erklärt, als sie eine Prostituierte für eine adlige Dame hielt und ihr den Vortritt lassen wollte. »Auf königlichen Befehl müssen sie sich so kleiden, dürfen jedoch selbst im Winter keinen Umhang tragen. Du kannst eine Hure daran erkennen, dass ihre Schultern stets unbedeckt sind.«
Aledis sah erneut an sich herunter. Frauen wie sie, die mit einem Handwerker verheiratet waren, durften keine bunten Kleider tragen. So befahl es der König. Und dabei waren diese Stoffe so hübsch! Aber wie sollte sie derart gekleidet vor Arnau treten? Die Soldaten würden sie für so eine halten … Sie hob einen Arm, um sich von der Seite zu betrachten.
»Gefällt es dir?«
Aledis drehte sich um und sah die Patronin neben dem Zelteingang stehen. Antonia – so hieß das blondgelockte Mädchen, das ihr beim Anziehen geholfen hatte – verschwand auf einen Wink der Frau.