Die Burg war über eine Meile vom Hof der Estanyols entfernt. Die ersten Male hatte er nichts über seinen Jungen in Erfahrung bringen können. Wen auch immer er fragte, die Antwort war stets die gleiche: Seine Frau und sein Sohn befänden sich in Doña Caterinas Privatgemächern. Der einzige Unterschied bestand darin, dass einige, wenn sie ihm antworteten, höhnisch lachten, während andere den Kopf senkten, so als wollten sie dem Vater des Kindes nicht in die Augen schauen. Bernat nahm die Ausflüchte über einen ewig scheinenden Monat lang hin, bis er eines Tages, als er mit zwei Laiben Brot aus dem Backhaus kam, einem schmutzigen Schmiedeburschen begegnete, den er manchmal über seinen Kleinen ausgefragt hatte.
»Was weißt du über meinen Arnau?«, fragte er ihn.
Weit und breit war niemand zu sehen. Der Junge versuchte, ihm auszuweichen, als ob er ihn nicht gehört hätte, doch Bernat hielt ihn am Arm fest.
»Ich habe dich gefragt, was du über meinen Arnau weißt.«
»Deine Frau und dein Sohn …«, begann der Junge mit gesenktem Blick.
»Ich weiß, wo sie sind«, fiel ihm Bernat ins Wort. »Meine Frage ist, ob es Arnau gut geht.«
Der Junge bohrte seine Zehen in den Sand, den Blick immer noch gesenkt. Bernat schüttelte ihn.
»Geht es ihm gut?«
Der Bursche sah nicht auf und Bernat schüttelte ihn erneut.
»Nein, tut es nicht!«, schrie der Junge. Bernat trat einen Schritt zurück, um ihm in die Augen zu sehen. »Nein, tut es nicht«, wiederholte der Junge. Bernat sah ihn fragend an.
»Was ist mit ihm?«
»Ich kann nicht … Wir haben Befehl, dir nichts zu sagen …« Die Stimme des Jungen brach.
Bernat schüttelte ihn erneut heftig und erhob die Stimme, ohne sich darum zu scheren, dass er die Wache auf sich aufmerksam machen konnte.
»Was ist mit meinem Sohn? Was ist mit ihm? Antworte!«
»Ich kann nicht. Wir können nicht …«
»Würde das deine Meinung ändern?«, fragte er ihn und hielt ihm einen Brotlaib hin.
Der Schmiedebursche riss die Augen auf. Ohne zu antworten, riss er Bernat das Brot aus den Händen und biss hinein, als hätte er tagelang nichts gegessen. Bernat zog ihn in eine Ecke, wo sie vor Blicken sicher waren.
»Was ist mit meinem Arnau?«, fragte er noch einmal nachdrücklich.
Der Junge sah ihn mit vollem Mund an und gab ihm ein Zeichen, ihm zu folgen. Verstohlen schlichen sie sich an den Hauswänden entlang bis zur Schmiede. Sie schlüpften hinein und gingen in den hinteren Teil. Der Junge öffnete die Tür zu einem kleinen Verschlag, in dem Material und Werkzeug aufbewahrt wurden, und ging hinein. Bernat folgte ihm. Kaum waren sie drinnen, hockte sich der Bursche auf den Boden und stürzte sich auf das Brot. Bernat sah sich in dem kleinen Raum um. Es war brütend heiß. Er entdeckte nichts, was ihm erklärt hätte, warum der Schmiedelehrling ihn dorthin geführt hatte: In diesem Raum gab es nur Werkzeuge und altes Eisen.
Er sah den Jungen fragend an. Dieser deutete in eine Ecke des Verschlags, während er genüsslich weiterkaute. Bernat wandte sich dorthin.
Auf einigen Holzplanken lag in einem zerfransten Weidenkorb verlassen und abgemagert sein Sohn und schien dort auf seinen Tod zu warten. Die weißleinene Decke war schmutzig und zerlumpt. Bernat konnte den Schrei nicht unterdrücken, der sich seiner Brust entrang. Es war ein erstickter Schrei, ein unmenschliches Schluchzen. Er nahm Arnau und drückte ihn an sich. Das Kind reagierte nur sehr schwach, aber es reagierte.
»Der Herr hat befohlen, deinen Sohn hierzulassen«, hörte Bernat den Schmiedeburschen sagen. »Am Anfang ist deine Frau noch ein paar Mal am Tag vorbeigekommen, um ihn zu beruhigen und ihm die Brust zu geben.«
Bernat drückte den kleinen Körper mit Tränen in den Augen an seine Brust, um ihm Leben einzuhauchen.
»Zuerst kam der Verwalter«, erzählte der Junge weiter. »Deine Frau wehrte sich und schrie … Ich habe es gesehen, ich war in der Schmiede.« Er deutete auf einen Spalt in der Bretterwand. »Aber der Verwalter ist sehr kräftig … Als er fertig war, kam der Herr in Begleitung einiger Soldaten herein. Deine Frau lag auf dem Boden, und der Herr begann, über sie zu lachen. Dann lachten alle. Von da an warteten jedes Mal neben der Tür die Soldaten darauf, dass deine Frau herauskam, um deinen Sohn zu stillen. Sie konnte sich nicht wehren. Seit einigen Tagen kommt sie kaum noch. Die Soldaten … sie fallen über sie her, sobald sie Doña Caterinas Gemächer verlässt. Sie schafft es nicht mal mehr bis hierher. Manchmal sieht der Herr sie, aber er lacht nur.«
Ohne zu überlegen, hob Bernat sein Hemd und schob den kleinen Körper seines Sohnes darunter. Dann verbarg er die Ausbuchtung hinter dem Brot, das ihm verblieben war. Der Kleine bewegte sich nicht. Der Schmiedelehrling sprang auf, als Bernat zur Tür ging.
»Der Herr hat es verboten. Du kannst nicht einfach …!«
»Lass mich vorbei, Junge!«
Der Bursche versuchte, ihm zuvorzukommen. Bernat hatte keinen Zweifel daran. Während er mit einer Hand das Brot und den kleinen Arnau festhielt, ergriff er mit der anderen eine Eisenstange, die an der Wand lehnte, und drehte sich unerwartet um. Die Stange traf den Jungen am Kopf, als er gerade aus dem Verschlag schlüpfen wollte. Er fiel zu Boden, ohne dass ihm die Zeit blieb, ein Wort zu sagen. Bernat sah nicht einmal hin. Er ging einfach hinaus und zog die Tür hinter sich zu.
Es war leicht, die Burg Llorenç de Belleras zu verlassen. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass Bernat unter dem Brotlaib den geschundenen Körper seines Sohnes trug. Erst als er vor dem Burgtor stand, dachte er an Francesca und die Soldaten. In seiner Wut machte er ihr Vorwürfe, weil sie nicht versucht hatte, sich mit ihm in Verbindung zu setzen, ihn vor der Gefahr zu warnen, in der sich ihr Kind befand, dass sie nicht um Arnau gekämpft hatte … Bernat drückte den Körper seines Sohnes an sich und dachte an all die Zeit, die er untätig gewesen war, während Arnau auf ein paar elenden Holzplanken den Tod erwartete.
Wie lange würden sie brauchen, um den Jungen zu finden, den er niedergeschlagen hatte? Ob er tot war? Hatte er die Tür des Verschlags hinter sich geschlossen? Unzählige Fragen schossen Bernat durch den Kopf, während er zu seinem Hof zurückging. Ja, er hatte sie geschlossen, er erinnerte sich vage daran.
Als er um die erste Kehre des Serpentinenpfades bog, der zur Burg hinaufführte, und diese aus der Sicht verschwand, holte Bernat seinen Sohn hervor. Seine stumpfen Augen blickten ins Leere. Er war leichter als der Brotlaib! Seine Ärmchen und Beinchen … Bernat schluckte schwer. Tränen traten ihm in die Augen. Er sagte sich, dass dies nicht der Moment war, um zu weinen. Er wusste, dass sie ihn verfolgen würden, dass sie die Hunde auf ihn hetzen würden, aber … Was nützte es zu fliehen, wenn das Kind nicht überlebte? Bernat verließ den Weg und versteckte sich in einem Gebüsch. Er kniete nieder, legte das Brot hin und nahm Arnau in beide Hände, um ihn vor sein Gesicht zu halten. Das Kind lag hilflos vor seinen Augen, sein Köpfchen fiel zur Seite. »Arnau!«, flüsterte Bernat. Er schüttelte ihn sanft, immer und immer wieder. Seine kleinen Äuglein bewegten sich, um ihn anzusehen. Mit tränenüberströmtem Gesicht stellte Bernat fest, dass das Kind nicht einmal die Kraft hatte zu weinen. Er legte sich das Bündel auf den Arm, zerkrümelte ein wenig Brot, befeuchtete es mit Speichel und hielt es dem Kleinen vor den Mund. Arnau reagierte nicht, aber Bernat versuchte es geduldig immer wieder, bis es ihm schließlich gelang, das Brot in den winzigen Mund zu schieben. Er wartete ab. »Iss, mein Sohn«, bat er ihn. Bernats Lippen bebten, als sich Arnaus Kehle fast unmerklich zusammenzog. Er zerkrümelte noch mehr Brot und wiederholte den Vorgang. Arnau schluckte noch siebenmal.
»Wir schaffen das«, sagte er zu ihm. »Ich verspreche es dir.«
Bernat ging auf den Weg zurück. Alles blieb ruhig. Mit Sicherheit hatten sie den Jungen noch nicht entdeckt. Andernfalls hätte er Lärm gehört. Für einen Augenblick dachte er an Llorenç de Bellera, grausam, niederträchtig und gnadenlos, wie er war. Welche Befriedigung würde es ihm verschaffen, einen Estanyol zu jagen!