»Ist der Prinz auch umgekommen?«
»Ja.«
»Ich bin nicht einmal erstaunt«, sagte Mrs Sutcliffe. Ihre Stimme zitterte etwas, aber sonst hatte sie sich völlig in der Gewalt. »Ich fürchtete immer, dass Bob jung sterben würde. Er war zu waghalsig; immer bereit, neue Flugzeuge und neue Tricks auszuprobieren. Ich habe ihn in den letzten vier Jahren kaum gesehen… Henry hat auch prophezeit, dass er eines Tages abstürzen würde.«
Es schien ihr eine gewisse Befriedigung zu geben, dass sich die Voraussage ihres Gatten bewahrheitet hatte. Eine Träne rollte über ihre Wange, und sie suchte nach einem Taschentuch.
»Es ist ein schwerer Schock«, flüsterte sie.
»Ich spreche Ihnen mein herzlichstes Beileid aus, Mrs Sutcliffe.«
»Bob konnte natürlich nichts anderes tun, er war schließlich der Privatpilot des Prinzen«, fuhr Mrs Sutcliffe mit erstickter Stimme fort. »Er durfte ihn nicht im Stich lassen… Er war ein ausgezeichneter Pilot, es war bestimmt nicht seine Schuld, dass sie gegen einen Berg geflogen sind.«
»Bestimmt nicht«, pflichtete O’Connor bei. »Ihr Bruder konnte auf das Wetter keine Rücksicht nehmen, denn der Prinz war seines Lebens in Ramat nicht mehr sicher. Er musste den gefährlichen Flug um jeden Preis wagen, und leider endete er tragisch.«
Mrs Sutcliffe nickte.
»Ich muss Sie noch etwas fragen… Hat Ihr Bruder Ihnen irgendetwas anvertraut, bevor Sie Ramat verließen?«
»Ob er mir etwas anvertraut hat? Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen.«
»Hat er Ihnen ein kleines Päckchen übergeben und Sie gebeten, es jemandem in England auszuhändigen?«
Sie schüttelte erstaunt den Kopf.
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Es handelt sich um einen sehr wichtigen Gegenstand, und da Ihr Bruder am Tag der Revolution in Ihrem Hotel war…«
»Ja, er wollte mich besuchen, aber ich war nicht da; er hinterließ mir eine Nachricht – völlig uninteressant. Er erkundigte sich, ob ich am nächsten Tag mit ihm Golf spielen wollte. Er scheint keine Ahnung gehabt zu haben, dass er noch am gleichen Tag mit Prinz Ali das Land verlassen musste.«
»War das alles? Haben Sie den Brief aufbewahrt, Mrs Sutcliffe?«
»Aber nein. Er war viel zu unwichtig. Ich habe den Bogen sofort zerrissen und weggeworfen. Warum hätte ich ihn aufheben sollen?«
»Weil er vielleicht noch eine versteckte Botschaft enthielt – möglicherweise mit unsichtbarer Tinte geschrieben.«
»Mit unsichtbarer Tinte!«, wiederholte Mrs Sutcliffe verächtlich. »So etwas geschieht doch nur in Kriminalromanen.«
»Da muss ich Ihnen leider widersprechen«, entgegnete O’Connor entschuldigend.
»Unsinn! Bob hat bestimmt niemals unsichtbare Tinte benutzt. Warum sollte er? Er war ein lieber, vernünftiger Junge, der mit beiden Beinen fest auf der Erde stand.« Wieder begannen die Tränen über ihr Gesicht zu rollen. »Wo ist denn nur meine Handtasche? Ich brauche unbedingt ein Taschentuch. Vielleicht hab ich sie im anderen Zimmer gelassen.«
»Ich hole sie Ihnen«, sagte O’Connor.
Er ging durch die Verbindungstür und blieb erstaunt stehen, als ein junger Mann im blauen Overall, der über einen Koffer gebeugt dastand, verlegen aufblickte.
»Ich bin der Elektriker, die Leitung war defekt«, erklärte der junge Mann eilig.
O’Connor drückte auf einen Schalter.
»Scheint doch alles in bester Ordnung zu sein«, meinte er liebenswürdig.
»Dann haben die mir wohl eine falsche Nummer gegeben«, entgegnete der Elektriker.
Er nahm seine Werkzeugtasche und verließ rasch das Zimmer.
O’Connor runzelte die Stirn, nahm die Handtasche vom Frisiertisch und gab sie Mrs Sutcliffe.
»Entschuldigen Sie einen Moment«, sagte er und nahm den Hörer ab.
»Hier Zimmer 310. Haben Sie eben einen Elektriker hierhergeschickt?… Ja, ich warte… Nein? Dachte ich mir’s doch… Ja, das Licht ist in Ordnung, vielen Dank.«
Er legte den Hörer auf.
»Unten wissen sie nichts von einem Elektriker.«
»Was wollte der Mann hier? War es ein Dieb?«
»Möglich.«
Mrs Sutcliffe prüfte aufgeregt den Inhalt ihrer Handtasche. »Aus meiner Tasche hat er nichts genommen – auch kein Geld.«
»Sind Sie ganz sicher, dass Ihr Bruder Ihnen nichts mitgegeben hat? Hat er Sie nicht gebeten, etwas in einen Ihrer Koffer zu packen?«
»Ganz bestimmt nicht«, erwiderte Mrs Sutcliffe.
»Hat er sich vielleicht an Ihre Tochter gewandt? Sie haben doch eine Tochter?«
»Ja, sie trinkt unten Tee.«
»Könnte es sein, dass Ihr Bruder ihr etwas mitgegeben hat?«
»Ausgeschlossen.«
»Es besteht auch noch die Möglichkeit, dass er etwas in Ihrem Gepäck versteckt hat, als er allein in Ihrem Hotelzimmer war.«
»Aber warum sollte er? Das ist eine völlig absurde Idee.«
»Nein, es ist nicht so absurd, wie Sie annehmen. Es wäre denkbar, dass Prinz Ali Ihren Bruder beauftragt hat, etwas für ihn aufzubewahren. Vielleicht glaubte Ihr Bruder, dass dieser Gegenstand bei Ihnen sicherer wäre als bei ihm.«
»Klingt höchst unwahrscheinlich.«
»Würden Sie mir gestatten, Ihr Gepäck zu durchsuchen?«
»Wie? Das ganze Gepäck?«, fragte Mrs Sutcliffe entsetzt.
»Ich weiß, dass es eine Zumutung ist«, erklärte O’Connor. »Aber es könnte von größter Wichtigkeit sein. Ich würde Ihnen dann gern wieder beim Einpacken helfen«, fuhr O’Connor liebenswürdig fort. »Meine Mutter, der ich oft helfe, hält mich für einen sehr guten Packer.«
Der junge O’Connor besaß viel Charme – das hatte Colonel Pikeaway richtig eingeschätzt –, dem Mrs Sutcliffe jetzt seufzend erlag.
»Also gut«, sagte sie, »wenn Sie es für unbedingt nötig halten…«
»Es könnte von außerordentlicher Wichtigkeit sein«, wiederholte O’Connor. Er sah sich um und bat mit einem reizenden Lächeln: »Können wir gleich anfangen?«
Als Jennifer eine Dreiviertelstunde später vom Tee zurückkam, blickte sie sich erstaunt im Zimmer um.
»Was ist denn hier los, Mum?«
»Wir haben alles ausgepackt, und jetzt packen wir wieder ein«, erwiderte Mrs Sutcliffe verärgert. »Das ist Mr O’Connor, und das ist meine Tochter Jennifer.«
»Aber warum denn?«
»Frag nicht so viel… Man nimmt anscheinend an, dass Onkel Bob etwas in meinem Gepäck versteckt hat. Dir hat er doch wohl nichts gegeben, Jennifer?«
»Nein. Wie kommst du nur darauf? Hast du meine Sachen auch ausgepackt?«
»Wir haben alles ausgepackt«, erklärte O’Connor freundlich, »aber wir haben nichts gefunden. Jetzt packen wir alles wieder in die Koffer. Möchten Sie nicht eine Tasse Tee oder vielleicht einen Kognak trinken, Mrs Sutcliffe?«
»Einen starken Tee, bitte.«
»Ich habe furchtbar viel gegessen, Mum. Butterbrote und Marmelade und Kuchen und Sandwiches. Es war himmlisch.«
O’Connor ging zum Telefon und bestellte den Tee, dann half er Mrs Sutcliffe weiter beim Packen.
Er packte so ordentlich und geschickt, dass sie ihre Bewunderung nicht verhehlen konnte.
»Ihre Mutter hat Recht, Sie sind wirklich sehr tüchtig.«
O’Connor lächelte.
Seine Mutter war schon lange tot, und das Packen hatte er von Colonel Pikeaway gelernt.
»Nun noch etwas, Mrs Sutcliffe – ich möchte Sie bitten, sehr, sehr vorsichtig zu sein.«
»Vorsichtig? Inwiefern?«
»Die Folgen einer Revolution sind oft unabsehbar und erstrecken sich weit über den Schauplatz des Aufstandes hinaus«, erwiderte er etwas vage. »Bleiben Sie länger in London?«
»Nein, morgen holt uns mein Mann mit dem Wagen ab, und wir fahren aufs Land.«
»Das ist gut. Aber ich bitte Sie noch einmal dringend, vorsichtig zu sein. Falls sich irgendetwas ereignen sollte, das Ihnen merkwürdig erscheint, müssen Sie umgehend 999 wählen.«