Diese Frage wusste Mademoiselle Blanche nicht zu beantworten.
»Selbst die großzügigsten Väter würden es ihren Töchtern nicht gestatten, Brillantarmbänder mit in die Schule zu nehmen«, fuhr Kommissar Kelsey fort.
»Wer weiß? Vielleicht einen anderen Wertgegenstand – einen Skarabäus zum Beispiel –, etwas, wofür ein Sammler würde geben viel Geld. Von einem Mädchen der Vater ist Archäologe.«
Kelsey lächelte.
»Ich halte das für ziemlich unwahrscheinlich, Mademoiselle Blanche.«
»War ja nur so eine Idee«, meinte sie achselzuckend.
»Haben Sie auch an anderen englischen Schulen Französisch unterrichtet, Mademoiselle Blanche?«
»In Nordengland – vor einiger Zeit. Hauptsächlich ich habe gelehrt in Frankreich und in Schweiz. Auch in Deutschland. Ich war gekommen nach England, um zu verbessern mein Englisch. Ich habe hier eine Freundin. Sie wurde krank ganz plötzlich, und sie schickte mich zu Miss Bulstrode; die war froh, so schnell zu finden einen Ersatz. Aber es gefällt mir nicht sehr gut. Wie ich schon habe gesagt, ich werde wohl nicht lange hierbleiben.«
»Warum gefällt es Ihnen hier eigentlich nicht?«, hakte Kelsey nach.
»Ich mag nicht Schulen, wo geschossen wird«, sagte Mademoiselle Blanche. »Und die Kinder haben keinen Respekt.«
»Kinder sind es doch eigentlich nicht mehr.«
»Manche haben Benehmen wie kleine Babys, manche sind wie Damen von fünfundzwanzig. Es gibt hier alle Arten. Sie haben zu viel Freiheit. Ich ziehe vor eine Schule mit Disziplin.«
»Kannten Sie Miss Springer gut?«
»So gut wie gar nicht. Sie hatte schlechte Manieren, und ich versuchte zu sprechen mit ihr möglichst wenig. Sie war Haut und Knochen und Sommersprossen und hatte eine laute, hässliche Stimme. Sie war wie Karikatur von Engländerin. Zu mir sie war oft unhöflich, und das mag ich nicht.«
»Bei welcher Gelegenheit war sie unhöflich zu Ihnen?«
»Als ich einmal wollte besichtigen die Turnhalle. Das mochte sie nicht – sie tat, als wäre es ihre Turnhalle. Aber es ist schönes neues Gebäude, und ich sehe mich einmal darin um, und da kommt Miss Springer und sagt: ›Was wollen Sie hier? Sie haben nichts zu suchen hier!‹ Hat sie gedacht, ich bin Schülerin?«, fragte Mademoiselle empört.
»Das war wirklich sehr ungezogen«, stimmte Kelsey beruhigend zu.
»Sehr schlechte Manieren, eine unmögliche Person! Und dann ruft sie: ›Gehn Sie nicht fort mit dem Schlüssel in Ihrer Hand.‹ Ich war sehr ärgerlich. Wie ich die Tür aufmache, der Schlüssel fällt heraus. Ich bücke mich und hebe ihn auf, und ich vergesse ihn zurückzutun, weil die mich hat beleidigt. Und dann schreit sie mir noch nach, ob ich wollte stehlen den Schlüssel. Ihr Schlüssel und ihre Turnhalle!«
»Sonderbar, dass sie die Turnhalle als ihr Privateigentum zu betrachten schien…« Kommissar Kelsey versuchte vorsichtig seine Fühler weiter auszustrecken. »Vielleicht hatte sie dort etwas versteckt und fürchtete, dass es jemand finden könnte?«
»Was soll sie haben versteckt? Liebesbriefe vielleicht?« Mademoiselle Angele lachte verächtlich. »Der hat bestimmt niemand geschrieben einen Liebesbrief… Die anderen Lehrerinnen sind wenigstens höflich. Miss Chadwick ist altmodisch – wie sagt man? – umständlich. Miss Vansittart ist sehr nett und sympathisch – grande dame.
Miss Rich mag sein etwas verrückt, aber freundlich. Und die jüngeren Lehrerinnen sind ganz nett.«
Nach einigen weiteren unwichtigen Fragen wurde Mademoiselle Blanche entlassen.
»Überempfindlich, wie alle Franzosen«, bemerkte Bond.
»Aber nicht uninteressant«, erwiderte Kelsey. »Miss Springer mochte es also nicht, wenn andere sich in ihrer Turnhalle umsahen. Aber warum?«
»Vielleicht glaubte sie, dass die Französin ihr nachspionierte«, sagte Bond.
»Aber weshalb? Das würde ihr doch nur dann etwas ausgemacht haben, wenn sie wirklich etwas zu verbergen hatte… Wen haben wir sonst noch zu verhören?«, fügte Kelsey hinzu.
»Miss Blake und Miss Rowan, die beiden jungen Lehrerinnen, und Miss Bulstrodes Sekretärin.«
Miss Blake war jung und ernst. Sie hatte ein rundes, gutmütiges Gesicht. Ihre Fächer waren Physik und Naturkunde. Viel zu sagen hatte sie nicht. Sie hatte mit Miss Springer kaum Kontakt gehabt und auch keine Ahnung, was zu ihrer Ermordung geführt haben mochte.
Miss Rowan hatte ihre eigenen Ansichten über den Fall, wie es sich für eine Psychologin gehörte. Sie hielt es für sehr wahrscheinlich, dass Miss Springer Selbstmord verübt hatte.
Kommissar Kelsey hob die Augenbrauen.
»Warum sollte sie? War sie besonders unglücklich?«
»Sie war aggressiv«, behauptete Miss Rowan und sah Kelsey durch ihre dicken Brillengläser aufmerksam an. »Sehr aggressiv, und das halte ich für einen äußerst wichtigen Faktor. Es war ein unbewusster Versuch, ihr Minderwertigkeitsgefühl zu verbergen.«
»Nach allem, was ich bisher gehört habe, war sie sehr von ihrer eigenen Wichtigkeit überzeugt«, meinte Kelsey.
»Zu sehr«, erklärte Miss Rowan bedeutungsvoll. »Verschiedene Dinge, die sie sagte, bestätigen meine Vermutung.«
»Zum Beispiel?«
»Sie machte gewisse Anspielungen; sie sagte, es gäbe Leute, die nicht das wären, was sie zu sein schienen. Sie erwähnte, dass sie in der Schule, an der sie vorher angestellt war, jemanden ›entlarvt‹ hätte. Allerdings habe die Leiterin etwas gegen sie gehabt und sich deshalb geweigert, Miss Springers Enthüllungen ernst zu nehmen. Auch einige der Lehrerinnen sollen gegen sie gewesen sein. Wissen Sie, was das bedeutet, Kommissar?« Miss Rowan beugte sich so erregt vor, dass sie fast vom Stuhl fiel. Eine glatte dunkle Haarsträhne hing ihr ins Gesicht. »Die ersten Anzeichen von Verfolgungswahn.«
Kommissar Kelsey räumte höflich ein, dass Miss Rowan in vielen Punkten Recht haben mochte. Jedoch könne er ihre Theorie eines Selbstmordes nur dann teilen, wenn sie ihm erklärte, wie Miss Springer es fertiggebracht habe, sich aus einer Entfernung von gut einem Meter zu erschießen. Auch das Verschwinden der Mordwaffe bedürfe einer Erklärung.
Miss Rowan stellte beleidigt fest, dass das Vorurteil der Polizei gegen psychologische Methoden ja nur zu bekannt sei.
Dann räumte sie das Feld für Ann Shapland.
»Nun, Miss Shapland, was können Sie uns zu dieser Angelegenheit mitteilen?«, fragte Kommissar Kelsey mit einem wohlgefälligen Blick auf die gepflegte, adrette Sekretärin.
»Leider nicht das Geringste. Ich habe mein eigenes Wohnzimmer und sehe die Lehrerinnen nur selten. Das Ganze erscheint mir noch immer einfach unglaublich.«
»Unglaublich? Inwiefern?«
»Weil ich mir nicht vorstellen kann, wer ein Interesse daran haben konnte, Miss Springer zu erschießen. Nehmen wir an, sie hätte einen Einbrecher überrascht – aber warum eigentlich sollte jemand auf den Gedanken kommen, in die Turnhalle einzubrechen?«
»Vielleicht ein paar Dorfjungen, die es auf irgendwelche Sportgeräte abgesehen hatten oder sich auch nur einen Jux machen wollten.«
»In diesem Fall hätte Miss Springer einfach gesagt: ›Was wollt ihr denn hier? Macht, dass ihr wegkommt!‹ Und sicher hätten die Jungen so schnell wie möglich das Weite gesucht.«
»Ist Ihnen jemals aufgefallen, dass Miss Springer eine besondere Einstellung zur Turnhalle hatte?«
»Eine besondere Einstellung?«, fragte Ann Shapland erstaunt.
»Hielt sie sie sozusagen für ihr Privateigentum? Passte es ihr nicht, dass andere hineingingen?«
Ann schüttelte den Kopf.
»Mir ist nichts Derartiges aufgefallen; allerdings bin ich selbst nur zweimal dort gewesen, als Miss Bulstrode mich beauftragte, bestimmten Schülerinnen etwas auszurichten.«
»Wussten Sie nicht, dass Miss Springer einmal sehr ärgerlich wurde, als Mademoiselle Blanche dort war?«