Sie scheint jeden Tag eine ganze Flasche zu verbrauchen, dachte Miss Bulstrode, während sie die elegante dunkelhäutige Frau begrüßte.
»Enchantée, Madame.«
Madame lächelte liebenswürdig.
Der orientalisch gekleidete Mann mit dem dunklen Vollbart verbeugte sich, ergriff Miss Bulstrodes Hand und sagte in ausgezeichnetem Englisch: »Ich habe die Ehre, Ihnen Prinzessin Shanda vorzustellen.«
Miss Bulstrode war über ihre neue Schülerin, die gerade aus einer Schweizer Schule kam, genau informiert, aber über deren Begleiter war sie sich nicht ganz im Klaren. Sie hielt ihn keinesfalls für den Emir selbst, eher für einen Minister oder einen Diplomaten. Sie benutzte, wie stets im Zweifelsfall, den Titel Exzellenz, während sie ihm versicherte, dass Prinzessin Shanda sich bestimmt bald in Meadowbank einleben und wohlfühlen werde.
Shanda lächelte höflich. Auch sie war elegant gekleidet und parfümiert. Miss Bulstrode wusste, dass sie fünfzehn Jahre alt war, aber sie wirkte älter und reifer, wie die meisten orientalischen Mädchen ihres Alters. Während Miss Bulstrode sich mit ihr über das bevorstehende Semester unterhielt, stellte sie erleichtert fest, dass Shanda fließend Englisch sprach, nicht verlegen kicherte und bessere Manieren hatte als die meisten ihrer englischen Altersgenossinnen. Es wäre keine schlechte Idee, europäische junge Mädchen in den Orient zu schicken, damit sie Höflichkeit und gutes Benehmen lernen, dachte die Schulvorsteherin.
Nachdem beiderseits Komplimente ausgetauscht worden waren, verließen die Besucher das Zimmer. Miss Bulstrode öffnete sofort die Fenster, um die betäubende Duftwolke hinauszulassen.
Als nächste erschienen Mrs Upjohn und ihre Tochter Julia.
Mrs Upjohn war eine sympathische Frau, Ende dreißig, mit sandfarbenem Haar, Sommersprossen und einem unkleidsamen Hut. Sie war offensichtlich nicht daran gewöhnt, Hüte zu tragen, jedoch hielt sie für diese feierliche Gelegenheit eine Kopfbedeckung für angebracht.
Julia war kein besonders hübsches Kind. Auch sie hatte Sommersprossen, eine hohe intelligente Stirn und ein freundliches Gesicht.
Die Formalitäten waren schnell erledigt, und Margaret wurde beauftragt, Julia zu Miss Johnson zu bringen.
»Auf Wiedersehen, Mummy«, rief Julia unbeschwert. »Und sei recht vorsichtig, wenn du den Gasofen anzündest, jetzt, wo ich’s nicht mehr machen kann – ja?«
Miss Bulstrode lächelte Mrs Upjohn freundlich zu, forderte sie jedoch nicht auf, Platz zu nehmen. Wer weiß, dachte sie, vielleicht will mir selbst diese sympathische Mutter einer vernünftigen Tochter auseinander setzen, dass ihr Kind unter nervösen Depressionen leidet und mit Samthandschuhen angefasst werden muss. Daher fragte sie nur liebenswürdig:
»Wollten Sie sonst noch irgendetwas mit mir besprechen?«
»Nein, eigentlich nicht«, erwiderte Mrs Upjohn freundlich. »Julia ist kein schwieriges Kind; sie ist gesund und intelligent – aber wahrscheinlich hält jede Mutter die eigene Tochter für besonders begabt.«
»Mütter sind sehr verschieden«, erklärte die Schulleiterin düster.
»Jedenfalls bin ich überglücklich, dass Julia hier sein kann«, sagte Mrs Upjohn. »Meine Tante wird für das Schulgeld aufkommen, denn ich selbst könnte es mir leider nicht leisten. Auch Julia ist ihrer Tante sehr dankbar und freut sich riesig auf die Schule.« Sie ging zum Fenster hinüber und blickte bewundernd auf den gepflegten Garten. »Ein herrlicher Garten! Sie haben bestimmt eine Menge guter Gärtner?«
»Das ist im Augenblick ein großes Problem. Bisher hatten wir drei sehr gute Gärtner, aber leider sind wir jetzt hauptsächlich auf Gelegenheitsarbeiter aus der Nachbarschaft angewiesen«, sagte Miss Bulstrode.
»Es scheint heutzutage überall schwer zu sein, gelernte Gärtner zu finden«, stellte Mrs Upjohn fest. »Jeder behauptet, Gärtner zu sein, selbst wenn er davon keine Ahnung hat, nur weil er sich nebenbei eine Kleinigkeit verdienen möchte. Sogar unser Milchmann…« Sie unterbrach sich und sah interessiert aus dem Fenster, dann rief sie: »Nanu! Das ist aber sonderbar…«
Miss Bulstrode hätte diesem Ausruf mehr Beachtung schenken sollen, aber leider tat sie es nicht, da sie zufällig aus dem anderen Fenster schaute, von dem aus man die Rhododendronsträucher sehen konnte. Hier bot sich ihr ein höchst unwillkommener Anblick. Lady Veronica Carlton-Sandways, deren großer schwarzer Samthut schief auf ihrem zerzausten Haar saß, kam mit schwankenden Schritten auf das Schulhaus zu. Sie war offensichtlich schwer betrunken.
Lady Veronicas Hang zur Flasche war Miss Bulstrode nicht unbekannt. In nüchternem Zustand war sie eine reizende Frau und ihren Zwillingstöchtern eine gute Mutter – unglücklicherweise war sie eine Quartalssäuferin. Ihr Gatte, Major Carlton-Sandways, hatte sich damit abgefunden; seine Kusine, die bei ihnen lebte, ließ Lady Veronica im Allgemeinen nicht aus den Augen. Beim Turnfest war Lady Veronica elegant gekleidet, völlig nüchtern, am Arm ihres Mannes und in Begleitung der Kusine in Meadowbank erschienen. Bei dieser Gelegenheit war sie allen anderen Müttern ein Vorbild an Tugend und Liebenswürdigkeit gewesen. Aber leider gelang es ihr gelegentlich, dem wachsamen Auge des Gatten zu entschlüpfen und sich heimlich zu betrinken. Im weinseligen Zustand verspürte sie dann das dringende Bedürfnis, ihre geliebten Töchter in die mütterlichen Arme zu schließen. Die Zwillinge waren am Vormittag mit der Bahn angekommen, und niemand hatte Lady Veronica erwartet.
Mrs Upjohn redete noch immer, aber Miss Bulstrode hörte nicht zu. Sie erwog verschiedene Möglichkeiten, denn sie erkannte, dass sich Lady Veronica dem aufsässigen Stadium näherte. Aber plötzlich erschien der Retter in der Not in Gestalt von Miss Chadwick, die atemlos um die Ecke bog. Die treue Chaddy, dachte Miss Bulstrode, stets zuverlässig, stets zur Stelle, ob es sich um ein zerschürftes Knie handelt oder um eine betrunkene Mutter.
»So eine Gemeinheit«, lallte Lady Veronica mit lauter Stimme. »Hat versucht mich zu hindern… wollte mich nicht herkommen lassen… habe Edith an der Nase herumgeführt. Bin heimlich in die Garage gegangen… hab den Wagen rausgeholt… hab mir ins Fäustchen gelacht… dumme Edith… typische alte Jungfer… wird nie einen Mann finden… auf dem Weg Stunk mit der Polizei… hat behauptet, ich sei nicht imstande, Wagen zu lenken… lächerlich… will Miss Bulstrode nur Bescheid sagen… hole meine beiden Töchter ab… sollen zuhause bleiben… Mutterliebe… ist etwas ganz Wundervolles… geht nichts über Mutterliebe…«
»Sehr richtig, Lady Veronica«, erklärte Miss Chadwick. »Wir freuen uns, dass Sie hergekommen sind. Vor allen Dingen müssen Sie die neue Turnhalle sehen, die wird Ihnen bestimmt gefallen.« Sie lenkte Lady Veronicas unsichere Schritte geschickt in die entgegengesetzte Richtung. Während sie sich vom Haus entfernte, sagte sie: »Ich nehme an, dass wir Ihre Töchter dort antreffen werden. So eine schöne Turnhalle, neue Schließfächer und ein Trockenraum für Badeanzüge…«
Die Stimmen verklangen.
Miss Bulstrode blieb aufmerksam am Fenster stehen. Einmal versuchte Lady Veronica sich freizumachen und zum Haus zurückzukehren, aber Miss Chadwick konnte es mit ihr aufnehmen. Schließlich verschwanden sie hinter der Rhododendronhecke, auf dem Weg zur entfernt und einsam gelegenen Turnhalle.
Miss Bulstrode stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Die brave zuverlässige Chaddy! Altmodisch, nicht sehr intelligent – abgesehen von ihrer Begabung für Mathematik –, aber immer zur Stelle, wenn sie gebraucht wurde.
Sie wandte sich schuldbewusst Mrs Upjohn zu, die noch immer munter plauderte.
»… aber keine großen Heldentaten«, sagte sie. »Ich bin nicht im Fallschirm abgesprungen, und ich war kein Geheimkurier. So tapfer bin ich nicht. Es handelte sich meistens um ziemlich langweilige Büroarbeit, Eintragungen auf Landkarten und dergleichen. Aber manchmal war es doch ziemlich aufregend, wie ich eben schon sagte… Wenn die Geheimagenten sich gegenseitig durch ganz Genf verfolgten… Selbstverständlich kannte man sich vom Sehen, und oft traf man sich in derselben Bar. Ja, manchmal war es recht amüsant. Verheiratet war ich damals natürlich noch nicht…«