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Miss Vansittart und Miss Chadwick saßen zusammen im Wohnzimmer, als Miss Rowan hereinkam und fragte:

»Wo ist Shanda? Ich kann sie nirgends finden. Der Wagen des Emirs ist eben angekommen, um sie abzuholen.«

Chaddy blickte erstaunt auf.

»Das muss ein Irrtum sein. Der Wagen des Emirs hat Shanda bereits vor einer Dreiviertelstunde hier abgeholt. Ich habe sie selbst einsteigen und abfahren sehen.«

Eleanor Vansittart zuckte die Achseln.

»Wahrscheinlich sind versehentlich zwei Autos bestellt worden«, meinte sie.

Sie ging hinaus und sprach mit dem Chauffeur.

»Ich verstehe das nicht«, sagte der Fahrer. »Man hat mir gesagt, ich soll die junge Dame aus Meadowbank abholen und nach London bringen.«

»Dann muss es sich um ein Missverständnis handeln«, erklärte Miss Vansittart.

»Schon möglich«, erwiderte der Fahrer. »In unserer Firma hat sich bestimmt niemand geirrt, aber bei diesen orientalischen Herren, die mit einem ganzen Stab von Leuten reisen, werden manchmal Anweisungen doppelt gegeben. So wird’s wohl gewesen sein.«

Mit diesen Worten wendete er den großen Wagen geschickt und fuhr davon.

Miss Vansittart sah ihm einen Augenblick unsicher nach, dann kam sie zum Schluss, dass kein Grund zur Besorgnis vorlag, und sie begann, sich auf einen friedlichen Nachmittag zu freuen.

Nach dem Mittagessen schrieben die wenigen zurückgebliebenen Schülerinnen Briefe, gingen im Garten spazieren, spielten Tennis oder schwammen.

Miss Vansittart setzte sich unter die Schatten spendende Zeder, um Briefe zu schreiben. Miss Chadwick blieb im Haus, und als um halb fünf das Telefon läutete, ging sie an den Apparat.

»Meadowbank?«, fragte eine kultivierte junge Männerstimme. »Kann ich bitte mit Miss Bulstrode sprechen?«

»Miss Bulstrode ist nicht da. Hier spricht Miss Chadwick.«

»Ich rufe im Auftrag von Emir Ibrahim aus dem ›Claridge‹ an. Es handelt sich um seine Nichte…«

»Um Shanda?«

»Ja. Der Emir ist erstaunt und ärgerlich, weil man ihm nicht Bescheid gesagt hat.«

»Bescheid? Worüber?«

»Dass seine Nichte nicht kommen kann.«

»Was soll das heißen? Ist Shanda noch nicht angekommen?«

»Nein, aber wenn ich Sie richtig verstehe, hat sie Meadowbank verlassen.«

»Allerdings. Das Auto hat sie um halb zwölf hier abgeholt.«

»Das verstehe ich nicht. Dann müsste sie doch längst hier sein…«

»Hoffentlich hatte sie keinen Unfall«, sagte Miss Chadwick besorgt.

»Man sollte nicht immer gleich an das Schlimmste denken«, erwiderte der junge Mann beruhigend. »Wir oder Sie wären längst benachrichtigt worden, wenn sie einen Unfall gehabt hätte. Machen Sie sich keine Sorgen.«

Aber Miss Chadwick machte sich Sorgen.

»Ich kann das einfach nicht verstehen«, sagte sie.

»Wäre es möglich…«

Der junge Mann zögerte.

»Ja?«, fragte Miss Chadwick.

»Ich habe nicht die Absicht, es dem Emir gegenüber zu erwähnen, aber halten Sie es – im Vertrauen gesagt – für möglich, dass ein junger Mann dahinter steckt?«

»Das ist völlig ausgeschlossen«, erwiderte Miss Chadwick würdevoll.

Aber war es wirklich ausgeschlossen? Was wusste man schon von den jungen Mädchen?

Sie legte den Hörer auf und begab sich, fast widerwillig, auf die Suche nach Miss Vansittart. Es war nicht anzunehmen, dass Miss Vansittart die Lage besser beurteilen konnte als sie, aber Miss Chadwick hielt es für ihre Pflicht, sie um Rat zu fragen.

»Das zweite Auto…«, sagte Miss Vansittart.

Sie sahen sich wortlos an. Schließlich fragte Chaddy zögernd: »Müssten wir nicht die Polizei verständigen?«

»Nein, bestimmt nicht die Polizei«, erwiderte Miss Vansittart verstört.

»Shanda fürchtete, dass jemand sie entführen wollte«, entgegnete Chaddy.

»Entführung? Unsinn!«, erwiderte Miss Vansittart scharf. »Miss Bulstrode hat mir für die Zeit ihrer Abwesenheit die Verantwortung für die Schule übertragen. Ich habe nicht die Absicht, diese Angelegenheit der Polizei zu melden und neue Schwierigkeiten heraufzubeschwören.«

Miss Chadwick betrachtete sie missbilligend. Sie hielt Eleanor Vansittarts Entschluss für kurzsichtig und töricht. Sie ging zurück ins Haus und rief im Schloss Welsington an. Unglücklicherweise war niemand zuhause.

14

Miss Chadwick warf sich ruhelos von einer Seite auf die andere. Sie zählte Lämmer, sie sagte lange Gedichte auf – alles umsonst. Sie konnte nicht einschlafen.

Als Shanda um zehn Uhr immer noch nicht zurückgekehrt war und sie auch keine Nachricht von ihr erhalten hatte, beschloss Miss Chadwick, Kommissar Kelsey anzurufen. Zu ihrer Erleichterung schien er die Sache nicht allzu tragisch zu nehmen. Er bat sie, sich nicht zu beunruhigen und alles Weitere ihm zu überlassen. Er wollte zunächst feststellen, ob Shanda einen Autounfall gehabt hatte; wenn nicht, würde er sich mit London in Verbindung setzen. Er hielt es auch für möglich, dass das junge Mädchen ihnen einen Streich gespielt hatte. Jedenfalls gab er Miss Chadwick den Rat, in der Schule möglichst wenig darüber verlauten zu lassen und nur anzudeuten, dass Shanda die Nacht bei ihrem Onkel verbracht habe.

»Miss Bulstrode will bestimmt vermeiden, dass diese Sache an die Öffentlichkeit dringt«, erklärte Kelsey. »Ich halte eine Entführung für höchst unwahrscheinlich. Bitte machen Sie sich keine Sorgen, Miss Chadwick. Sie können alles Weitere getrost uns überlassen.«

Aber Miss Chadwick machte sich Sorgen.

Während sie sich schlaflos im Bett wälzte, wanderten ihre Gedanken von der Möglichkeit einer Entführung wieder zum Mord.

Mord in Meadowbank. Grauenhaft! Unvorstellbar! Meadowbank.

Miss Chadwick liebte die Schule vielleicht noch mehr als Miss Bulstrode, wenn auch auf eine andere Art. Die Gründung des Internats war ein ungeheurer Entschluss gewesen, der Tatkraft und Mut erfordert hatte. Sie besaßen nicht viel Kapital, und sie riskierten alles. Wie leicht hätte der Versuch misslingen können. Miss Bulstrode hatte Freude am Abenteuer, aber Miss Chadwick war immer dafür gewesen, den sicheren Weg zu wählen. Miss Bulstrode hatte jedoch ihre Vorstellungen verwirklicht, ohne die finanzielle Sicherheit in Betracht zu ziehen, und am Ende damit Recht behalten. Niemand war glücklicher als Chaddy, dass Meadowbank sich zu einer der berühmtesten englischen Schulen entwickelt hatte. Sie genoss Frieden und Wohlstand wie ein Kätzchen die wärmenden Sonnenstrahlen.

Sie war außer sich gewesen, als Miss Bulstrode davon zu sprechen begann, dass sie sich zur Ruhe setzen wollte. Gerade jetzt – auf dem Höhepunkt des Erfolges? Sie hielt es für eine Verrücktheit. Miss Bulstrode hatte von Reisen gesprochen; man müsste doch die Schönheiten der Welt kennen lernen, sagte sie. Aber für Miss Chadwick gab es nichts Schöneres als Meadowbank – ihr geliebtes Meadowbank. Und jetzt… Mord… Mord im Paradies! Unvorstellbar.

Die arme Miss Springer. Natürlich war es nicht ihre Schuld, und doch, obwohl es ganz unlogisch war, machte Chaddy ihr heimlich Vorwürfe. Ihr bedeuteten die Traditionen von Meadowbank nichts. Sie war eine taktlose Person, die den Mord irgendwie herausgefordert haben musste. Miss Chadwick wälzte sich auf die andere Seite und nahm sich vor, an etwas anderes zu denken. Es gelang ihr nicht, und sie beschloss, aufzustehen und zwei Aspirin zu nehmen. Wie spät war es eigentlich? Sie knipste das Licht an und sah auf die Uhr. Es war Viertel vor eins. Genau die Zeit, um die Miss Springer… nein, nein, sie durfte nicht weitergrübeln… Aber es war auch zu dumm gewesen von Miss Springer, ganz allein rauszugehen, ohne jemanden zu wecken…

Miss Chadwick stand auf und ging zum Waschbecken. Sie nahm zwei Aspirin mit einem Schluck Wasser. Auf dem Rückweg zog sie den Vorhang ein wenig zur Seite und starrte in die Nacht hinaus. Sie tat es fast unbewusst, um ganz sicher zu sein, dass nie wieder mitten in der Nacht in der Turnhalle ein Licht zu sehen sein würde…