»Sie sollten sie aber erkennen«, sagte Poirot. »Ich habe diese Fotografie aus Genf bekommen. Es ist ein Bild von Prinzessin Shanda.«
»Aber das ist doch nicht Shanda!«, rief Miss Chadwick erregt.
»Doch«, erwiderte Poirot. »Ich werde das Rätsel lösen. Die ganze Verwicklung hat ihren Ursprung in Ramat, wo, wie Sie wissen, vor drei Monaten ein Staatsstreich stattgefunden hat. Es gelang dem Herrscher, Prinz Ali Yusuf, mit seinem Privatpiloten zu entkommen. Jedoch stürzte das Flugzeug in den Bergen nördlich von Ramat ab und wurde erst später aufgefunden. Ein gewisser Wertgegenstand, den Prinz Ali immer bei sich trug, war verschwunden. In dem zertrümmerten Flugzeug wurde er nicht gefunden, und es verbreitete sich das Gerücht, er sei nach England geschafft worden. Verschiedene Gruppen von Leuten versuchten nun, sich diesen Wertgegenstand anzueignen. Ein Weg dazu führte über die einzige nahe Verwandte des Prinzen, seine Kusine, die in der Schweiz zur Schule ging. Es war anzunehmen, dass dieser Wertgegenstand in die Hände der Prinzessin Shanda gelangen würde, falls er sich nicht mehr in Ramat befand. Ihr Onkel, der Emir Ibrahim, wurde von gewissen Agenten heimlich überwacht, andere behielten die Prinzessin selbst im Auge. Es war bekannt, dass sie zu Beginn dieses Schuljahrs nach Meadowbank kommen sollte. Selbstverständlich würde sie in diesem Fall auch hier weiter beobachtet werden. Jedoch fand man einen viel einfacheren Ausweg. Man beschloss, Shanda zu entführen und statt ihrer eine junge Person nach Meadowbank zu schicken, die sich als Prinzessin Shanda ausgab. Man konnte das ruhig tun, weil der Emir Ibrahim in Ägypten war und England erst im Spätsommer besuchen wollte. Miss Bulstrode selbst hatte das Mädchen vorher noch nie gesehen, alle Verhandlungen waren über das Londoner Konsulat gegangen.
Die echte Shanda verließ die Schweiz angeblich in Begleitung eines Vertreters der englischen Gesandtschaft. Tatsächlich war der Gesandtschaft mitgeteilt worden, dass sie von einer der Lehrerinnen der Schweizer Schule nach England gebracht werden würde. Die wahre Shanda wurde in ein reizendes Schweizer Chalet in den Bergen gebracht, in dem sie noch immer weilt. Ein anderes junges Mädchen kam in London an, wo es von einem Vertreter der Gesandtschaft empfangen und nach Meadowbank gebracht wurde. Dieses Mädchen war natürlich wesentlich älter als die Prinzessin, aber das würde nicht weiter auffallen, da Orientalinnen oft älter aussehen, als sie sind. Eine junge französische Schauspielerin, die oft Schulmädchenrollen spielt, übernahm es, als Prinzessin Shanda aufzutreten.
Ich habe mich neulich erkundigt, ob jemandem die Knie der Prinzessin aufgefallen sind«, fuhr Poirot fort. »Knie geben nämlich zuverlässigen Aufschluss über das Alter eines Menschen. Man kann die Knie einer Frau von fünfundzwanzig unmöglich mit den Knien einer Fünfzehnjährigen verwechseln. Leider waren sie niemandem aufgefallen.
Der Plan erwies sich allerdings nicht als erfolgreich. Niemand versuchte, sich mit Shanda in Verbindung zu setzen; sie erhielt weder Briefe noch Telefonanrufe. Man begann zu fürchten, dass der Emir Ibrahim eher als geplant nach England kommen würde, denn er ist ein Mann schneller und unvorhergesehener Entschlüsse.
Die falsche Shanda war sich darüber klar, dass jederzeit jemand auf der Bildfläche erscheinen konnte, der die echte Shanda kannte, ganz besonders nach dem ersten Mord. Daraufhin bereitete sie ihre Entführung vor, indem sie mit Kommissar Kelsey über diese Möglichkeit sprach. Selbstverständlich wurde sie niemals wirklich entführt. Sowie sie erfuhr, dass ihr Onkel sie am nächsten Morgen abholen lassen wollte, setzte sie sich telefonisch mit ihren Leuten in Verbindung, und daraufhin wurde sie von einem großen Auto abgeholt und ›offiziell‹ entführt. Wie Sie wissen, erschien das Auto des Emirs eine halbe Stunde später in Meadowbank. Die falsche Shanda tauchte in London unter, da ihre Rolle ausgespielt war. Um das Entführungsmärchen aufrechtzuerhalten, wurde jedoch ein Lösegeld verlangt.«
Hercule Poirot machte eine kurze Pause. Dann sagte er: »Mit diesem kleinen Trick beabsichtigte man lediglich unsere Aufmerksamkeit abzulenken, denn die wirkliche Entführung hatte ja bereits vor drei Wochen in der Schweiz stattgefunden.«
Poirot war zu höflich, um festzustellen, dass er allein auf diesen Gedanken gekommen war.
»Wir müssen nun von der Entführung zu einem viel ernsteren Thema übergehen: Mord.
Die falsche Shanda hätte Miss Springer natürlich ermorden können, aber weder Miss Vansittart noch Mademoiselle Blanche. Jedoch war es nicht ihre Aufgabe zu morden, sondern lediglich, den Wertgegenstand an sich zu nehmen, falls er ihr gebracht würde, oder Nachrichten zu empfangen.
Kehren wir zurück nach Ramat, wo alles begann. In Ramat hatte sich das Gerücht verbreitet, dass Prinz Ali Yusuf diesen Wertgegenstand Bob Rawlinson, seinem Privatpiloten, übergeben hatte, der ihn nach England bringen sollte. An jenem Tag ging Rawlinson in jenes Hotel in Ramat, wo sich seine Schwester, Mrs Sutcliffe, und ihre Tochter Jennifer aufhielten. Mrs Sutcliffe und Jennifer waren gerade nicht da, aber Bob Rawlinson ging in ihr Zimmer hinauf, wo er sich mindestens zwanzig Minuten aufhielt – reichlich lange unter diesen Umständen. Er hätte seiner Schwester einen ausführlichen Brief schreiben können, aber das tat er nicht. Er hinterließ nur einen kurzen Gruß, den zu schreiben nur eine Minute gedauert haben konnte.
Der Gedanke lag nahe, dass er während der Zeit, die er im Zimmer seiner Schwester verbrachte, einen gewissen Gegenstand in ihrem Gepäck versteckt hatte. Von da an müssen wir zwei verschiedene Spuren verfolgen. Eine oder mehrere Gruppen nahmen an, dass Mrs Sutcliffe diesen Gegenstand nach England gebracht hatte. Daraufhin wurde in ihr Landhaus eingebrochen, und es wurde alles gründlich durchsucht. Das zeigt, dass diese Gruppe nicht wusste, wo der Gegenstand verborgen war, nur dass er sich irgendwo unter Mrs Sutcliffes Sachen befand.
Aber jemand anderer wusste ganz genau, wo der Gegenstand war, und ich glaube, dass ich Ihnen jetzt unbesorgt mitteilen kann, wo Bob Rawlinson ihn versteckt hatte: nämlich im Griff eines Tennisschlägers, den er ausgehöhlt hatte und den er danach so geschickt wieder zusammenmontierte, dass nichts zu sehen war.
Der Tennisschläger gehörte seiner Nichte Jennifer. Jemand, der genau wusste, wo der Wertgegenstand war, ging eines Nachts in die Turnhalle, zu der er sich einen Nachschlüssel verschafft hatte. Er nahm an, dass um diese Zeit alle schlafen würden, aber er irrte sich. Miss Springer sah vom Haus aus ein flackerndes Licht in der Turnhalle und beschloss nachzusehen, was da los ist. Sie war eine kräftige, durchtrainierte junge Person, die davon überzeugt war, allein mit einem Eindringling fertigwerden zu können. Die infrage kommende Person war wahrscheinlich gerade damit beschäftigt, die Tennisschläger durchzugehen. Als sie sich von Miss Springer entdeckt und erkannt sah, zögerte sie nicht… Sie erschoss Miss Springer. Danach musste der Mörder schnell handeln. Man hatte den Schuss gehört, Leute näherten sich, und der Mörder musste um jeden Preis ungesehen aus der Turnhalle kommen. Der Tennisschläger musste für den Augenblick zurückgelassen werden…
Nach ein paar Tagen versuchte man es mit einer anderen Methode. Eine fremde Dame, die mit einem amerikanischen Akzent sprach, lauerte Jennifer Sutcliffe auf, als sie vom Tennisplatz kam. Sie erzählte ihr eine glaubhaft erscheinende Geschichte von einer Verwandten, die ihr einen neuen Tennisschläger schickte. Jennifer schöpfte keinen Verdacht und vertauschte ihren alten Tennisschläger freudig mit dem neuen teuren Sportgerät. Allerdings hatte sich einige Tage zuvor etwas ereignet, wovon die Dame mit dem amerikanischen Akzent nichts wusste: Jennifer Sutcliffe und Julia Upjohn hatten nämlich ihre Tennisschläger ausgetauscht. Die Fremde erhielt also Julia Upjohns Tennisschläger, auf dessen Griff sich allerdings ein Schild mit Jennifers Namen befand.