Ein gewöhnlicher Reisender, eine vertrauenswürdige Person. Aber natürlich! Wie hatte er das nur vergessen können. Bob fasste sich an den Kopf: Joan, seine Schwester Joan Sutcliffe. Joan hatte zwei Monate hier verbracht, weil der Arzt ihrer Tochter Jennifer nach einer schweren Lungenentzündung einen Aufenthalt in einem trockenen, sonnigen Klima verordnet hatte. Sie wollten in drei oder vier Tagen auf dem Seeweg nach England zurückfahren. Joan war die ideale Person. Was hatte Ali über Frauen und Juwelen gesagt? Bob lächelte. Die brave Joan würde selbst über dem kostbarsten Schmuck nicht den Kopf verlieren. Sie stand mit beiden Beinen fest auf der Erde. Ja, auf Joan konnte man sich verlassen.
Nein, einen Augenblick… konnte er sich wirklich auf Joan verlassen? Auf ihre Ehrlichkeit bestimmt, aber auf ihre Diskretion? Bob schüttelte bedauernd den Kopf. Joan würde darüber reden oder zumindest Andeutungen machen… »Ich hab etwas sehr Wichtiges nach England zu bringen, aber ich darf nicht darüber sprechen, mit keinem Menschen. Sehr aufregend!«
Joan hatte es noch nie fertiggebracht, etwas für sich zu behalten, obwohl sie das energisch bestritt, wenn man es ihr ins Gesicht sagte. Joan durfte also nicht wissen, was sie mitnahm – das wäre am sichersten. Er würde die Steine in einen kleinen, ganz gewöhnlichen Pappkarton packen und ihr ein Märchen erzählen. Ein Geschenk? Eine Verpflichtung? Ein Auftrag? Es würde ihm schon etwas einfallen…
Bob sah auf die Uhr und stand auf.
Es war höchste Zeit.
Trotz der Mittagshitze ging er mit schnellen, entschlossenen Schritten davon. Hier schien alles ruhig und normal zu sein. Nur im Palast war man sich des schwelenden Feuers bewusst, der flüsternden Spitzel, der heimtückischen Verräter. Alles hing von der Armee ab. Würde sie sich loyal verhalten? Wer war zuverlässig? Wer ein Rebell? Auf jeden Fall würde ein Staatsstreich versucht werden. Würde er erfolgreich sein oder nicht?
Bob betrat stirnrunzelnd das führende Hotel von Ramat. Es trug den großartigen Namen »Ritz Savoy« und hatte eine anspruchsvolle moderne Fassade. Es war vor drei Jahren mit großem Tamtam von einem schweizerischen Direktor, einem österreichischen Koch und einem italienischen Maître d’hotel eröffnet worden. Alles schien wunderbar. Dann war als Erster der Österreicher gegangen, gefolgt von dem Schweizer. Jetzt hatte auch der Italiener das Hotel verlassen. Die Karte war reichhaltig, aber das Essen schlecht. Die Bedienung war unmöglich, und die Wasserversorgung funktionierte nicht mehr richtig.
Der Empfangschef, der Bob gut kannte, strahlte ihn an.
»Guten Morgen, Major. Wollten Sie Ihre Schwester besuchen? Sie ist mit der Kleinen rausgefahren – zu einem Picknick.«
»Ein Picknick?« Bob war außer sich – warum musste sie gerade heute einen Ausflug machen…
»Mit Mr und Mrs Hurst von der Ölgesellschaft«, erklärte der Empfangschef. Hier wussten alle über alles Bescheid… »Sie sind zum Ka-lat-Diwa-Damm gefahren.«
Bob fluchte leise. Wer weiß, wann Joan zurückkommen würde.
»Ich möchte in ihr Zimmer gehen«, sagte er und bat um den Schlüssel, der ihm bereitwillig ausgehändigt wurde.
Er schloss die Tür auf und ging hinein. Das große Zweibettzimmer machte einen chaotischen Eindruck. Joan Sutcliffe war ein ziemlich unordentlicher Mensch. Auf einem Sessel lagen Golfschläger und auf dem Bett ein Tennisschläger. Über den Tisch waren Postkarten, Filme, Bücher und Reiseandenken verstreut, die größtenteils in Birmingham und in Japan hergestellt worden waren.
Bob sah sich um; sein Blick fiel auf Koffer und Reisetasche. Er stand vor einem Problem. Er würde Joan nicht mehr sprechen, bevor er mit Ali abflog, denn der Damm war weit vom Hotel entfernt. Er könnte ihr das Päckchen und einen Brief zurücklassen – aber nein, das war ganz unmöglich. Er wusste nur zu gut, dass man ihn beobachtete. Wahrscheinlich war man ihm vom Palast zum Café und vom Café zum Hotel gefolgt. Er hatte zwar niemanden gesehen, aber er wusste, dass die Rebellen geschickte Spitzel besaßen. Es war ganz in Ordnung, dass er seine Schwester in ihrem Hotel besuchte, aber wenn er ein Päckchen und einen Brief hinterließ, würde das Päckchen geöffnet und der Brief gelesen werden.
Zeit… Zeit… er hatte zu wenig Zeit!
Die kostbaren Juwelen brannten in seiner Hosentasche.
Er sah sich im Zimmer um…
Dann grinste er und zog die kleine Werkzeugtasche heraus, die er immer bei sich trug. Unter den Sachen seiner Nichte Jennifer fand er etwas Plastilin, das er gut gebrauchen konnte.
Er arbeitete schnell und geschickt. Einmal blickte er misstrauisch zum offenen Fenster. Nein, das Zimmer hatte keinen Balkon. Niemand konnte ihn beobachten, seine Nerven mussten ihm einen Streich gespielt haben.
Er beendete seine Arbeit und nickte zufrieden. Er war ganz sicher, dass weder Joan noch sonst irgendwer etwas bemerken würde – bestimmt nicht Jennifer, die ein egozentrisches Kind war und sich nur für ihre eigenen Angelegenheiten interessierte.
Nachdem er die Überbleibsel seiner Tätigkeit vom Tisch gefegt und in seiner Tasche verstaut hatte, sah er sich nochmals zögernd um. Er erblickte Joans Schreibblock und starrte stirnrunzelnd auf den Bogen, der vor ihm lag. Er musste ihr eine Botschaft hinterlassen, aber was konnte er schreiben? Nur Joan sollte den Inhalt seines Briefes verstehen, niemand sonst, dem das Schreiben in die Hände fiel, durfte wissen, um was es sich handelte… Leider war das ganz unmöglich. In den Kriminalromanen, die Bob in seiner Freizeit las, hinterließ man einfach Botschaften in einer Geheimschrift, die dann später erfolgreich entziffert wurde. Aber er hatte keine Ahnung, wie man so eine Geheimschrift erfand, außerdem besaß Joan zuwenig Fantasie, um eine Nachricht zu verstehen, die nicht klar und deutlich, versehen mit den nötigen Kommas und i-Punkten, auf dem Papier stand.
Plötzlich kam ihm die Erleuchtung. Er musste die Sache ganz anders anfangen. Um die Aufmerksamkeit von Joan abzulenken, musste er ihr einen völlig harmlosen Brief hinterlassen. Die eigentliche Botschaft würde er einer anderen Person geben, die sie Joan erst in England überbringen sollte. Er begann schnell zu schreiben:
Liebe Joan,
ich bin nur kurz vorbeigekommen, um dich zu fragen, ob du heute Abend eine Runde Golf mit mir spielen willst. Nehme allerdings an, dass du nach dem Ausflug zum Damm viel zu müde sein wirst. Wie wär’s mit morgen? Ich treffe dich um fünf im Club.
Herzlichst dein Bob.
Eine völlig belanglose Nachricht für die Schwester, die er vielleicht nie wiedersehen würde – aber je belangloser, desto besser! Joan durfte auf gar keinen Fall in diese gefährliche Sache verwickelt werden, sie durfte nicht einmal ahnen, dass er selbst darin verwickelt war.
Joan konnte nicht heucheln, deshalb war sie nur dann sicher, wenn sie nichts wusste.
Der Brief erfüllte außerdem einen doppelten Zweck; denn es ging daraus hervor, dass Bob keine Reisepläne hatte.
Er blieb noch eine Minute nachdenklich sitzen, dann stand er auf, ging zum Telefon und verlangte die Nummer der englischen Botschaft. Gleich darauf wurde er mit seinem Freund Edmundson, dem dritten Sekretär, verbunden.
»John? Hier spricht Bob Rawlinson. Kannst du dich nach Büroschluss mit mir treffen?… Geht es nicht etwas früher?… Bitte, tu mir den Gefallen, es ist sehr wichtig, es handelt sich nämlich um ein Mädchen…« Er räusperte sich verlegen. »Sie ist fabelhaft – das hat die Welt noch nicht gesehen! Aber leider ziemlich schwierig…«
»Was du immer für Mädchengeschichten hast, Bob«, erwiderte Edmundson steif und leicht vorwurfsvoll. »Also, wenns sein muss… passt es dir um zwei?«
Edmundson legte den Hörer auf, und gleich darauf hörte Bob noch ein leises Knacken in der Leitung…
Gut – Edmundson hatte ihn sofort verstanden. Er und Bob benutzten oft einen Geheimcode, da in Ramat sämtliche Telefongespräche abgehört wurden. »Ein fabelhaftes Mädchen – das hat die Welt noch nicht gesehen«, bedeutete, dass es sich um etwas sehr Dringendes handelte. Er würde Edmundson um zwei Uhr vor der Bank treffen und in sein Auto steigen. Dort würde er ihm von dem Versteck erzählen und ihm sagen, dass Joan nichts davon wisse. Er würde Edmundson auch zu verstehen geben, dass seine Aufgabe von ausschlaggebender Bedeutung sein würde, falls ihm, Bob, etwas zustoßen sollte. Da Joan und Jennifer auf einem Frachtschiff zurückfuhren, würden sie erst in sechs Wochen in England sein. Bis dahin hätte die Revolution höchstwahrscheinlich stattgefunden. Entweder würde sie erfolgreich sein oder niedergeschlagen werden. Ali Yusuf würde in Europa sein… Er musste Edmundson das unbedingt Notwendige mitteilen, aber nicht mehr.